Trennung vom Freund, den Master in der Tasche, eine langjährige Anstellung als Lehrerin – und jetzt? Stephanie Studer suchte einen Schnitt und fand den Pacific Crest Trail an der amerikanischen Pazifikküste. Sie marschierte von Kalifornien nach Kanada, durch Wüstenhitze und Schneesturm, übernachtete im Reich von Bären und Kojoten, stiess an ihre Grenzen – und fand zu sich selbst.
Der Schnee kommt früher als angekündigt. Aus den Flocken wird ein heftiger Sturm, ein weisses Etwas wabert um die einsame Wanderin, hüllt alles ein und verdeckt die Sicht. Der Wind tobt, Hagel kommt auf, prasselt nieder. Stephanie Studer ahnt den Abgrund, sie weiss, wie gäch es hier «z’Loch ab» geht. GPS? Fehlanzeige. Handy? Tot. Sie verlässt sich auf ihren Orientierungssinn, setzt vorsichtig Fuss vor Fuss, Meter um Meter abwärts, bis ihr auffällt: Das kann nicht sein, das ist die falsche Richtung. Es dämmert bereits, bald wird es einnachten. Kein Mensch weit und breit, kein Weg, keine Spuren. Der Wind heult, die Hagelkörner prasseln auf den Regenschutz, den Rucksack, die Trekkingschuhe.
Stephanie Studer ist eine mutige Frau, aber jetzt wird ihr bange. Das Zelt wird sie hier nicht aufstellen können, so viel ist gewiss. Zu steil, zu rutschig, zu gefährlich. Sie ist müde. Durchnässt. Und auf dem falschen Weg. Rundum ist nur dieses Weiss. Sie erinnert sich an den Pfad auf der Karte – und kraxelt auf allen vieren aufwärts. Plötzlich passiert es: Das GPS sendet ein Signal. Ganze Felsbrocken donnern von ihrem Herzen, als sie realisiert, dass sie sich nach fast fünf Stunden Herumirren nur 300 Meter vom Pfad entfernt befindet. Erleichtert stapft sie durch den Schnee auf dem schmalen Weg und trifft dabei auf Tom. Auch er ist auf dem Pacific Crest Trail unterwegs. Die beiden beschliessen, gemeinsam weiterzugehen – wenigstens bis zu High Sierra, den höchsten Bergen, Toms Ziel. Stephanie Studer aber will den ganzen Trail bewältigen, bis nach Vancouver, über 4000 Kilometer.
«Ich hatte abgeschlossen»
So viel vorweg: Sie hat es geschafft. Dieser Abend im Schneesturm in Kalifornien sei das schlimmste Erlebnis ihrer viermonatigen Wandertour gewesen, sagt sie heute, rund zwei Jahre danach. «Ich hatte abgeschlossen», doppelt sie nach und lacht. Damals aber war ihr das Lachen vergangen, sie sah die Gefahr, in der sie sich befand, mehr als realistisch. Und sie wusste um die Herausforderungen, die der Pacific Crest Trail mit sich bringen würde. «Aber wenn man plötzlich mittendrin steht, ist das nochmals ganz anders.» Den Nervenkitzel hat sie nicht gesucht. Es war der Wunsch nach Einsamkeit, nach Zeit zum Nachdenken, was sie auf den Pacific Crest Trail getrieben hatte.
Die Baslerin mit Wahlheimat Graubünden wollte weg von der Zivilisation, von durchgetakteten Tagen, vom Überfluss. Sie brauchte eine Zäsur in dieser Lebensphase, ohne zunächst zu wissen, wie diese aussehen sollte. Den Master in Deutsch und Geografie hatte die Oberstufenlehrerin in der Tasche, es kam zur Trennung von ihrem Freund, und so sehr sie ihre Stelle an der Schule mochte, so wenig konnte sie sich vorstellen, dass nun alles im gleichen Trott weitergehen würde. Wie bisher also nicht – aber was dann?
Da kam Mister Zufall ins Spiel. Stephanie Studer entdeckte in einer Buchhandlung ein Sachbuch über den Pacific Crest Trail, las den Klappentext, stöberte darin und wusste sofort: «Das will ich auch machen!» Der Wunsch breitete sich mit einer kompromisslosen Heftigkeit aus, die sie selber überraschte. Schnurstracks ging sie zum Schulleiter mit der Bitte um unbezahlten Urlaub während der besten Wanderzeit, von April bis Ende August. Kaum hatte sie die Zusage, holte sie das Visum für die USA ein, recherchierte, besorgte die Ausrüstung, machte sich mit der Strecke vertraut. Ein halbes Jahr Vorbereitungszeit blieb ihr – vergleichsweise wenig, üblich ist ein Jahr und mehr.
Warum tust du dir das an?
Ihr Vorhaben sei nicht nur auf Begeisterung gestossen. «Meine Mutter fand es nicht gerade lässig», erzählt die 35-Jährige. «Sie hatte vor allem Bedenken, weil ich allein unterwegs sein würde. Aber mein Vater hat meinen Wunsch verstanden.» Im Gegenzug zu manchen Freundinnen und Kollegen, die den Kopf schüttelten: Zu gefährlich sei das, zu waghalsig. «Du hast es doch so gut hier, weshalb tust du dir das an?» – diese Frage bekam sie öfter zu hören. Andere wiederum bewunderten den Mut, riefen: «Wow, cool! Ich wollte, ich würde so etwas auch wagen.»
Bis dato war Stephanie Studer zwar eine leidenschaftliche Berggängerin, aber abgesehen vom West Highland Way in Schottland (154 Kilometer) und dem Kungsleden in Schwedisch-Lappland (400 Kilometer) hatte sie keine Erfahrung mit Fernwanderwegen, schon gar nicht mit solchen über 4000 Kilometern und unter extremen Klimabedingungen. Trotzdem hegte sie kaum Zweifel. «Nur in den letzten Tagen vor dem Start war ich extrem nervös», erinnert sie sich. Als sie von ihrer «Trail-Angel-Familie» von San Diego im Süden Kaliforniens an den Start an der Grenze zu Mexiko gebracht wurde, schlugen zwei Herzen in ihrer Brust. «Ich spürte eine riesige Freude und Erleichterung, dass es endlich losgeht; und gleichzeitig leichte Panik, weil ich wusste: Jetzt gibt es kein Zurück mehr.» Nach knapp fünf Kilometern tauchte ein Schild auf. Sie erfuhr, dass sie erst drei Meilen hinter sich – und 2647 vor sich hatte. Da habe sie gedacht: Das schaffe ich nie!


Hitze, Regen und Geräusche
Doch sie lief weiter, stellte sich den Herausforderungen, und davon gab es viele. In den ersten Nächten hielten sie die ungewohnten Geräusche wach, vor allem, wenn ausser ihr niemand in der Gegend das Zelt aufgestellt hatte. In der Wüste machte ihr das Marschieren unter sengender Hitze zu schaffen, bis zu sechs Wasserflaschen schleppte sie auf dem Rücken. Tagelanger Regen, heftige Winde, gefährliche Pfade, unwirtliches Gelände und anstrengende Höhenmeter zerrten an ihren Nerven. Einmal gab es an der Wasserstelle kein Wasser mehr, und sie legte sich schlafen ohne das kostbare Nass in der Nähe. An anderen Abenden hoffte sie, nachts nicht aufstehen zu müssen, weil sie tagsüber Kojoten und Bären gesichtet hatte.
Gleichzeitig erlebte sie das Glücksgefühl der Freiheit, den Rhythmus des Laufens. Sie sog die Stille in sich auf, die Natur, die Weite. Spürte, wie ihr Kopf freier wurde, wie sie mit vielen Geschichten aus der Kindheit, aus der Jugend und ihrem aktuellen Leben abschliessen konnte. Unterwegs habe sie viel gelernt, sagt sie rückblickend. Eines vor allem: Kontrolle abzugeben. «Denn vieles ist nicht planbar – plötzlich schlägt das Wetter um, und man braucht doch länger für eine Etappe als gedacht.» An manchen Tagen sei sie 60 Kilometer gelaufen, an anderen 20. Immer wieder stiess sie auf Mitwandernde, wie auf Tom oder den Arzt, der ihre wundgescheuerten Knöchel in der Anfangszeit behandelte. «Gerade nach dem Sturmerlebnis war es sehr beruhigend, Toms Atem aus dem Zelt nebenan zu hören.» Die App mit den markierten Campingmöglichkeiten war ihre wichtigste Begleiterin. Denn der Pfad ist oft schmal, führt immer wieder durchs Gebirge, wo das Zelten unmöglich wäre. Die Zeltplätze gaben die Strecken vor und verlangten Entscheidungen. Immer wieder galt es abzuwägen: Hier campieren – oder vor Einbruch der Dunkelheit noch drei Stunden zum nächsten Platz wandern?
Endloser Appetit
Ungefähr einmal pro Woche legte Stephanie einen Ruhetag in einem kleinen Ort in der Nähe des Trails ein, wusch dort die Kleider, lud sämtliche Geräte auf, auch den überlebenswichtigen Handy-Charger, traf auf andere Trailtrekker und ass, ass, ass. «Nach einer Woche mit Instantnudeln, Tortillas und Proteinriegeln genoss ich ein richtiges Essen. Mein Appetit war grenzenlos!» Zwei Nutellagläser fanden stets den Weg in ihren Rucksack, Gewicht hin oder her. Manchmal wäre sie gerne länger geblieben, doch Zeit zum Trödeln oder für spontane Aktionen wie einen Roadtrip hatte sie nicht – ihr Urlaub war begrenzt, das neue Schuljahr in Sichtweite. Und den Pacific Crest Trail nicht vollständig zu absolvieren, war nie eine Option. Als nach rund vier Monaten Vancouver immer näher rückte, tauchte die Wanderin wieder ein in ein Wechselbad der Gefühle. «Ich konnte mir nicht vorstellen, dass es nun bald vorbei sein sollte mit dem Leben in der Natur. Wie ich mich in der Zivilisation zurechtfinden sollte, in einem Alltag mit geschlossenen Räumen, Strassen und Stundenplänen, war mir schleierhaft!» Sie sei von einer tiefen Traurigkeit erfasst worden, gemischt mit dem Stolz über das Erreichte.
In Vancouver ereilte sie der erste Kulturschock, zurück in der Schweiz der zweite. «Hätte die Schule nicht begonnen, wäre ich wohl in ein Loch gefallen», meint sie rückblickend. Inzwischen hat sie den Pacific Crest Trail ein zweites Mal absolviert – gedanklich. Stephanie Studer packte ihre Erlenisse zwischen zwei Buchdeckel mit dem sinnigen Titel «Freilaufen». Und hätte nicht eine Verletzung sie ausgebremst, wäre sie vermutlich jetzt in Neuseeland unterwegs. Denn dort lockt der nächste Trekkingweg mit 3000 Kilometern – und Sonne, Sturm und Abenteuern; ein erneutes Freilaufen, bis sich die Knoten im Kopf lösen.
Franziska Hidber
Copyright Bilder: Stephanie Studer