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Herzgeschichten

Das Rezept heisst  Learning by Doing

Das Rezept heisst Learning by Doing

Solides Schweizer Schreinerhandwerk und das quirlige Leben in Indien – Karl Bruno Zehnder bringt beides zusammen und die praktische Berufsbildung ins Land der heiligen Kühe. In seinem Leben hat er zwei verblüffende Entscheide gefällt. Beide machen ihn bis heute glücklich.

Wäre es nach seinen Eltern gegangen, würde Karl Bruno Zehnder heute die aktuellste Frühlingsmode präsentieren, Trendfarben erläutern oder seine Kundschaft punkto Schnitt und Stil beraten. So hatten es sich die Eltern vorgestellt, aber so ist es nicht. Denn der Sohn dachte so wenig wie die älteren Geschwister daran, das elterliche Kleidergeschäft zu übernehmen. Allerdings fehlte ihm auch ein Plan, was er stattdessen tun könnte. «Werde doch Schreiner!», riet ihm eine Freundin seiner Mutter und empfahl ihm einen Betrieb. Karl Bruno absolvierte dort eine Schnupperlehre, erhielt die Lehrstelle, wurde Schreiner.

«Mein Seklehrer hat die Augen verdreht, als ich ihm von meinen Plänen erzählte», erinnert er sich und lacht. «Ich war – freundlich ausgedrückt – nicht gerade der Beste im Werken. Dazu konnte ich mehr schlecht denn recht zeichnen, und ein räumliches Vorstellungsvermögen fehlte mir auch. Nur Mathematik beherrschte ich.» So schlecht die Vorzeichen standen, so bravourös meisterte der junge Mann seine Lehre und später sein Berufsleben. Und das Zeichnen gehört heute zu seinen Steckenpferden.

Diese Erfahrung hat den 51-Jährigen für sein Leben geprägt und begleitet ihn bis heute: «Talent allein ist nicht ausschlag­gebend. Man kann im Leben alles lernen, sofern man gewillt ist, zu üben und zu machen.» Und gemacht hat Karl Bruno Zehnder viel.

Plötzlich rief Indien

Es genügte ihm nicht, an der Hobelbank zu stehen. Er wollte sein Faible für Menschen und Projektleitung beruflich umsetzen. Bildete sich zum Projektplaner weiter, war als Berufsbildner und Projektleiter in der Stiftung Albisbrunn tätig, wo Jugendliche in Entwicklungskrisen betreut und beschult werden. Auch privat legte der junge Mann ein beachtliches Tempo vor: Schon früh heiratete er Cornelia, die Liebe seines Lebens, wurde Vater von vier Buben, die gerade dabei sind, ihre Flügel auszubreiten und das elterliche Nest zu verlassen. Alles war gut und fühlte sich richtig an: der Beruf, die Familie, das beschauliche Leben in der Schweiz in Hausen am Albis. Und genau da platzte ein Angebot der Rajendra & Ursula Joshi Foundation (JCF) in sein Leben. Ob er als Projektleiter in Indien das duale Berufsbildungssystem der Schweiz für Schreiner einführen wolle?

Karl Bruno Zehnder musste sich erst einmal setzen. Er war kein Reisevogel. Gar nicht. Europa genügte ihm vollauf. Und trotzdem. In Indien etwas zu bewirken, in ein neues Land, ein anderes Leben, eine unbekannte Kultur einzutauchen – dieser Gedanke reizte ihn, den Sesshaften. Denn damals, als seine Kollegen die Welt bereisten und Abenteuer erlebten, war er als junger Familienvater gefordert. Jetzt, wo die Kinder selbstständig wurden, wäre der ideale Zeitpunkt für jeweils drei Monate Indien und einen Monat Schweiz im Wechsel.

Dass er kaum Englisch konnte, belastete ihn nicht weiter. Da waren sein Vertrauen und seine prägende Erfahrung, dass mit Learning by Doing alles zu schaffen ist, auch Englisch. Bruno Karl Zehnder besprach sich mit Cornelia. «Aber die Entscheidung, diese Projektleitung anzunehmen, traf ich für mich.» Seine Frau wollte ihren Lebensmittelpunkt und ihr Geschäft in der Schweiz behalten – ihn aber im unbekannten Land besuchen.

Dieses friedliche Nebeneinander

Und so flog der vierfache Vater im Frühling 2017 ostwärts und fand sich in Jaipur in einer komplett anderen Welt wieder. Wenn er sich an die ersten Eindrücke erinnert, sieht er wieder dieses Verkehrschaos vor sich, Kühe, die überall rumlaufen und alles fressen, was sie finden, inklusive Plastik. An das Gehupe und den Lärm, an ungewohnte, manchmal penetrante Gerüche. Aber auch an herzliche, offene Menschen, die ihn sofort anlächelten. An den netten jungen Schreiner, der gut Englisch sprach und ihm half, an die richtigen Menschen und die richtigen Maschinen und ein einfaches Lokal für den Unterricht zu kommen. An das friedliche Nebeneinander – die Villa direkt neben den Slums, den goldenen Tempel neben dem heruntergekommenen Viertel, Arme, Reiche, Junge, Alte.

Tag für Tag tastete sich der Schweizer in das ihm unbekannte Leben vor. «Ich wollte verstehen, wie das Land funktioniert», sagt er rückblickend. Bald fand er heraus, dass sogar der Verkehr ein System hat: «Hupen bedeutet einfach: Hallo, hier komme ich!», erklärt er und lacht schallend. Und auch an die Zeitvereinbarungen musste er sich gewöhnen. «In Indien verabredet man sich entweder ‹before lunch› oder ‹after lunch› – also vor oder nach dem Mittagessen. Präziser wird es nie!» Inzwischen weiss er auch, weshalb: Bei diesem Verkehr sei es schlicht nicht möglich abzuschätzen, wie lange man unterwegs sein wird. Die Gabe, im Moment zu leben, bewundert er: «Weshalb kommen so viele Leute aus der Schweiz nach Indien? Um Yoga zu praktizieren, sich auf den Augenblick zu konzentrieren, weder an gestern noch an morgen zu denken. Etwas, das die Menschen in Indien hervorragend beherrschen.»

Möbelbau ohne Plan

Noch grösser wurde sein Staunen, als er zur Vorbereitung einige Schreinerei­betriebe besichtigte. Statt Möbel zu planen, am Computer zu zeichnen, in der Werkstatt zu fertigen und dann auszuliefern, verlegen indische Schreiner ihren Arbeitsplatz kurzerhand auf die Baustelle und bauen dann den Schrank direkt in die dafür vorgesehene Nische – ohne einen einzigen Plan zu zeichnen. Rasch fiel ihm auf, dass ein Schreiner in Indien kein Generalist ist, der von der Planung über die Konstruktion über die Ausführung bis zum letzten Schliff alle Arbeitsgänge übernehmen kann, wie er es aus der Schweiz kannte. «Es gibt lauter Spezialisten, die genau in einem Bereich oder an einer Maschine tätig sind. Einige schnitzen, drechseln oder machen wunderbare Intarsienarbeiten, andere sind genau für diese eine Maschine ausgebildet, können aber weder den Arbeitsschritt vorher noch nachher übernehmen.» Auch das Ansehen des Berufs sei ein anderes: «Schreiner steht in der Hierarchiestufe ganz unten. Wer kann, ergattert sich einen Job bei der Regierung. Das ist gut bezahlt, nicht anstrengend und der beste Weg in den Mittelstand.» Für die Ärmsten gebe es gar keine Ausbildung, auch keine Lehre. Bildung laufe in Indien über die Universität, und Bildung sei «immer Business». Wer das nötige Kleingeld nicht habe, und das sind viele, lasse sich halt vom Vater ins Schreinerhandwerk einführen.

Selber machen und ausprobieren

Das Berufsbildungsprojekt der Schweizer Stiftung JCF in Jaipur wirkt dem entgegen. In einem ersten Schritt bildete Karl Bruno zusammen mit Einheimischen zehn Jungtrainer im Schreinerhandwerk aus. Das Budget der Stiftung ermöglichte die Anschaffung aller wichtigen Maschinen – sodass jeder das Gelernte gleich umsetzen konnte. «Nur was man selber macht, hat man wirklich gelernt», weiss der ehemalige Schreiner. In Indien fehle diese Erkenntnis: «Die Praxis der dort üblichen Schreinerlehrgänge beträgt 20 Prozent, der Rest ist Theorie. Und Praxis bedeutet, dass 50 Leute um eine Maschine stehen und dem Ausbildner zuschauen, selbst aber nicht Hand anlegen.»

Inzwischen hat Karl Bruno Zehnder sein Engagement für die JCF beendet. Neun Monate im Jahr in Indien zu verbringen, wurde ihm zu viel. Zumal seine Frau Cornelia das Land bei ihren Besuchen zwar lieben lernte, ihr Leben und ihre Aufgaben in der Schweiz aber behalten wollte.

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Eigenes Projekt

Dennoch bleibt die Schreinerausbildung in Indien seine Herzensangelegenheit. Dafür hat er soeben mit einem Freund, dem französischen Schreinermeister Bram Rows im südindischen Mysore, ein neues Ausbildungsprojekt für künftige Schreiner lanciert – nach bewährter Schweizer Art. Gleichzeitig importiert er indische Holzhandwerkkunst in die Schweiz, exklusive Auftragsarbeiten: Intarsien, Schnitzereien, Drechselarbeiten, Möbel. Was da in Indien entsteht, begeistert und beeindruckt ihn tief: «Diese Formenvielfalt ist unglaublich. Etwas vom Schönsten, was ich bisher gesehen habe.»

Vier bis fünf Monate im Jahr ist er weiterhin in jenem Land, das seinem Leben eine neue Richtung gegeben hat – etwa halb so viel Zeit wie vorher.

Gelernt habe er in den vergangenen zwei Jahren viel, sagt der Projektleiter. Englisch natürlich, das indische System und – Fotografieren. Die Reisekamera kaufte er zunächst nur, um indische Schreinereien festzuhalten. Inzwischen veröffentlicht er seine Bilder mit Erfolg unter dem Label «Time Photo – the Magic Eye». Das bestätigt ihn darin, was er schon als junger Schreinerlehrling erfahren hat: «Man kann alles lernen.» Der allergrösste Lernschritt jedoch betreffe etwas, das er ohne die Zeit in Indien wohl heute noch nicht könnte: Geduld. Auch das hat er geschafft – Learning by Doing.

www.karlzehnder.com, www.woodcrafting.ch, www.facebook.com/karlBzehnder

Franziska Hidber

Guter Daddy – schlechter Daddy?

Die Vaterrolle ist eine ganz spezielle im Leben eines Mannes. Es ist buchstäblich so, dass sich das Leben von einem Tag auf den andern komplett verändert. Dabei geht es einerseits um eine grosse Verantwortung, anderseits aber auch um Gefühle, um Nähe und Wärme zu dem kleinen «Wurm», der plötzlich in das häusliche Dasein gepurzelt ist. Das Vatersein hat aber auch Schattenseiten.

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