Sie sind draussen daheim und sitzen beruflich oft am Schreibtisch. Mit ihrem ersten Wanderbuch über das Münstertal hat das Paar beides verknüpft – und dabei ein doppeltes Abenteuer erlebt, Zitterpartie inklusive.
Andrea Kippe und Daniel Fleuti gehen gerade über die Strasse, als sie den Polizisten bemerken. Er fuchtelt mit den Armen und ruft: «He, ihr da vorne, Stopp!» Erschrocken bleiben sie stehen. In ihrem Kopf schlagen die Gedanken Purzelbäume: Haben sie einen unerlaubten Weg genommen? Sich gesetzeswidrig verhalten? Bevor ihnen irgendein Vergehen einfällt, hat der Polizist sie schon erreicht: «Ihr habt doch den Wanderführer übers Val Müstair geschrieben, oder?» Die beiden nicken erleichtert. «Der ist super, grossartig. Und ich habe sogar eine Tour entdeckt, die ich noch nicht kannte – als Einheimischer!» Der Polizist lacht herzhaft. «Gratuliere zum Buch!»
Das Publikum im Literaturraum der Bibliothek St.Gallen atmet auf – und lacht ebenfalls. Einen kurzen Moment hat es den Atem angehalten, als das Autorenpaar diese Episode mit dem Polizisten aus Santa Maria im Münstertal erzählte. Es war nur eines von unzähligen Abenteuern, das die beiden während insgesamt vier Monaten im Engadiner Südtal während der Entstehung ihres Buchs erlebt haben. «Eigentlich sind es zwei grosse Abenteuer», präzisiert Daniel Fleuti an der Lesung: «Das Rekognoszieren vor Ort für 20 Wandertouren, 6 Schneeschuhtouren, 4 Winterwanderungen, einen Strauss an Hintergrundgeschichten – und ein Buch publizieren.»

Neuland Buch
Denn das Buch bedeutete Neuland. Nicht das Texten und das Fotografieren, nicht die Recherche, nicht die PR – darin sind die beiden Journalisten seit Jahren Profis. Und noch weniger das Wandern oder Schneeschuhlaufen: Das Paar fühlt sich draussen daheim, bewegt sich am liebsten zwischen Moos und Wurzeln, Steinen und Felsen, Bächen und Magerwiesen, Schneefeldern und Sternenhimmel. Dabei sind sie durchaus professionell unterwegs: Andrea hat ein Diplom als Wildnispädagogin in der Tasche und absolviert gerade die Ausbildung in Waldtherapie, Daniel ist diplomierter Wander- und Schneeschuhtourenleiter. In ihnen brennt neben der Leidenschaft für die Natur auch der Wunsch, anderen etwas mitzugeben über das naturnahe Verhalten draussen, über das Ökosystem oder wie man im Wald auftanken kann. Auch deswegen haben sie ihre kleine Firma «Wildout Naturerlebnisse» gegründet, wo sie mit Gruppen auf den Spuren der Wölfe am Calanda wandern, Wildkräuter über dem Feuer kochen oder den Wald nachts erleben.
Schnelle Ernüchterung
«Ja, wir haben eine Mission, wir wollen etwas vermitteln», sagt Daniel im Café St Gall nach der Lesung. Aber das sei nicht so einfach. Als frisch diplomierter Wander- und Schneeschuhtourenleiter habe ihn die Ernüchterung rasch eingeholt: «Die Leute wollten auf den Gipfel, nicht immer wieder anhalten und zuhören.» Das war das eine. Das andere: «In der Schweiz sind die Wanderwege markiert. Da ist es schwierig, Kundschaft zu finden, die für eine geführte Wanderung so viel bezahlt, dass man davon leben kann», sagt der 48-Jährige. Und auch ihre Walderlebnisse wurden weniger gebucht als gedacht. Heute kennt Andrea die Gründe dafür: «Wir haben die Angebote um unsere Bedürfnisse und Ausbildungen herum gebaut, aber nicht auf potenzielle Zielgruppen zugeschnitten.» Daniel besann sich wieder auf den Journalismus und sein neues Steckenpferd, das er zum Beruf gemacht hat: die Fotografie. Fortan setzte er auf Wander- und Schneeschuhreportagen, die er in verschiedenen Zeitungen publizierte. «Und plötzlich war die Idee da: Wieso machen wir nicht ein ganzes Buch? Da hätte alles Platz: Unsere Wanderungen, die Texte, meine Fotos und das Hintergrundwissen, das viele Leute nicht auf dem Wanderweg hören möchten, aber allenfalls gern auf dem Sofa zur Vorbereitung lesen würden.»

Vorfreude – und Zweifel
Die Idee war der erste Schritt Richtung Neuland. Der zweite folgte alsbald, als ihre Wahl auf das Münstertal mit seinem Reichtum fiel. «Naturjuwel» nennen sie es und meinen damit die wilde Natur und die riesige Artenvielfalt zwischen hochalpinen Landschaften und mediterraner Vegetation, die Lärchen- und Arvenwälder und Blumenwiesen, wie sie nur noch selten anzutreffen sind, und die bewegte Vergangenheit an der Grenze zu Italien. Für den dritten Schritt sorgte der Rotpunktverlag mit seiner Zusage, den geplanten Wanderführer in der Reihe «Naturpunkt» herauszugeben. Nun waren aller guten Dinge drei, doch in die Vorfreude der Neo-Buchautoren mischten sich Zweifel: Was, wenn die Münstertaler die «Unterländer» nicht akzeptieren würden, nichts erzählen wollten? Oder wenn das Wetter nicht mitspielte?
Die ersten Bedenken verflogen schneller als die Wolken über Müstair. Denn kaum hatten sich die Unterländer aus Elgg (ZH) mit den Münstertalern an einen Tisch gesetzt und ihr Wanderbuchprojekt vorgestellt, schlug ihnen Begeisterung entgegen. «Wir wurden mit offenen Armen empfangen», erzählt Andrea. «Die Einheimischen freuten sich darüber, dass ein Wanderführer nur über ‹ihr› Val Müstair erscheinen sollte, öffneten bereitwillig ihre Türen und weihten uns in die Geschichte und Kultur ihrer Gegend ein.»



Warten aufs Wetter
Vier Monate haben Andrea und Daniel insgesamt im Münstertal verbracht, Touren ausgetüftelt, ausprobiert, mit den Menschen gesprochen, Häuser und Kirchen angeschaut, regionale Spezialitäten gekostet und das Tal bis in den hintersten Winkel – und ja, auch auf der Südtiroler Seite – erforscht. So herzlich die Begegnungen mit den Einheimischen waren und so spannend die Geschichten, die sich zum Beispiel um die früheren Schmugglerpfade drehten, so hartnäckig blieben die Zweifel im Nacken, ob das Ganze überhaupt zu schaffen sei.
Denn nicht alles war planbar, am wenigsten das Wetter. Einmal fehlte der Schnee, ein andermal hatte es zu viel für die geplante Schneeschuhtour. Dann wieder war der Schnee ideal, aber der Himmel zu düster. Als grösste Zitterpartie entpuppte sich die Tour auf den Piz Chavalatsch, stolze 2700 Meter hoch, 1500 Höhenmeter rauf, 1500 runter. «Dafür mussten wir auf perfekte Bedingungen warten», sagt Andrea. Sie warteten. Und warteten. Die Monate zogen ins Tal, Andrea und Daniel unternahmen ihre Touren, recherchierten, fotografierten, schrieben. Zwischendurch widmeten sie sich in Elgg ihren anderen journalistischen Aufträgen.Die perfekten Bedingungen für den Piz Chavalatsch blieben aus, während der Abgabetermin des Manuskripts bedrohlich näherrückte.

Da begann es erst …
Doch just einen Monat vor der Deadline hatte der Münstertaler Wettergott ein Einsehen. An einem klaren Septembertag erklommen die beiden den Berg, den sie schon so oft vom Tal aus gesehen hatten, und waren überwältigt von der Schönheit und dem Ausblick. Vier Wochen später schickten sie ihre Arbeit von insgesamt zwei Jahren an den Verlag.
Was darauf folgte, belustigt sie selbst ein gutes Jahr danach: «Wir dachten, damit sei unsere Arbeit getan, aber jetzt ging es erst richtig los mit lektorierten Texten gegenlesen, Fotos auswählen, Layout begleiten, Karten begutachten, Informationen prüfen, Fragen beantworten, Bildlegenden texten, Danksagungen schreiben …» Somit dauerte das Abenteuer länger als gedacht – bis am 6. April ein Paket mit den gedruckten Büchern eintraf. «Das war ein spezieller Moment», erinnert sich Andrea.
Unbezahlt und unbezahlbar
Das Buch sei ein einmaliges Erlebnis gewesen, darin sind sich beide einig. Aber auch ein «Luxusprojekt». Denn die finanzielle Unterstützung diverser Sponsoren deckte gerade die Spesen, ihre Arbeit werde zum grossen Teil unbezahlt bleiben und sei sowieso «unbezahlbar», formuliert es Daniel. Ihr Reichtum ist ideeller Art – die vielen herzlichen Begegnungen, die unvergesslichen Touren und die zahlreichen Episoden, die sie noch immer zum Lachen bringen. Heute geniessen sie es, sich wieder ohne Deadline zu bewegen. Andrea folgt «ihrem inneren Ruf nach der Natur» weiter und widmet sich aktuell dem «Waldbaden», einem Waldtherapie-Konzept aus Japan. «Es hat vor allem einen gesundheitsfördernden Aspekt», erklärt die 51-Jährige. Daniel wiederum hält die Zeit reif für weiteres Neuland, momentan befasst er sich mit Yoga und Meditation. Doch sobald sich ein gemeinsames Zeitfenster öffnet, packen die beiden ihre Rucksäcke und setzen sich in den Zug – nicht immer, aber immer wieder Richtung Münstertal.
Franziska Hidber


Wanderwelt Val Müstair
Mit ihrem Wanderführer legt das Autorenteam Andrea Kippe und Daniel Fleuti mehr vor als ein Wanderbuch: Es ist eine Liebeserklärung ans Naturjuwel Münstertal auf rund 320 Seiten. 20 Wandertouren bis T3, 6 Schneeschuhtouren bis WT2 und 4 Winterwanderungen mit allen wichtigen Informationen und Karten machen Lust, selbst loszuziehen. Dazu gibt es zahlreiche Artikel über Natur, Kultur und Geschichte sowie Tipps für die Anreise mit dem öffentlichen Verkehr, regionalen Genuss am Esstisch und Übernachtung. Publiziert im Rotpunktverlag, 1. Auflage 18.12.2018, ISBN 978-3-85869-780-6
