Seit seinem Unfall vor fünf Jahren hat sich Alois Schmids Leben um 180 Grad gedreht – zunächst konnte der Geschäftsführer, Bierbrauer, Gemeinderat und Schafbauer nur noch seine Augen bewegen. Heute geniesst er die imposante Bergwelt der Aletsch-Arena ganz entspannt auf zwei Rädern. Ein Glück, das er am liebsten mit seiner «Rollstuhlfamilie» teilt.
4.30 Uhr war Tagwache. Anders hätte Alois Schmid niemals alles in den Tag packen können, was da Platz finden musste: Seine 200 Schafe und Lämmer, sein Elektrogeschäft, sein Amt als Gemeinderat, seine Bierbrauerei, seine Frau und seine vier inzwischen erwachsenen Kinder. Er managte den Betrieb, führte seine Schafe durch die Täler auf die Weide, überwachte die Bierbrauerei, nahm an den Sitzungen des Gemeinderats teil, schaute zu Hause zum Rechten. Und selbst mit der tatkräftigen Unterstützung von seinen sieben Schwestern waren die Tage randvoll und erfüllt. Genau das mochte der umtriebige Walliser.
Dann kam der Unfall und mit ihm die Zäsur. Als hätte jemand ein Stoppschild aufgestellt in seinem Leben. Statt zwischen Alpen, Föhn und Rebbergen fand sich Alois Schmid im Paraplegikerzentrum in Nottwil wieder, wo es keine Berge, aber immer wieder Nebel gab und er sich zunächst nicht mehr bewegen konnte – nur noch schauen. «Meine Augen funktionierten wie zuvor, aber sonst gar nichts mehr», sagt er und erzählt, wie seine Frau Danielle und seine vier Kinder ihm das Alphabet vorgelesen hatten. Kam der richtige Buchstabe an die Reihe, blinzelte er, und seine Familie setzte die Antwort zusammen, Buchstabe für Buchstabe, Wort für Wort, Satz für Satz. Die Kommunikation wurde zum Kraftakt, und bislang Selbstverständliches mutierte zur Anstrengung. Alois Schmid, der vorher in Windeseile durch sein Leben flitzte, war nun zur Langsamkeit verurteilt; etwas, das ihm schwer fiel.
2 Räder statt 200 Schafe
Die ersten vier Halswirbel zertrümmert, der fünfte und sechste gebrochen – das war der Schnitt. Zu Beginn habe er gehadert, gibt er unumwunden zu. Dazu kam das Heimweh nach dem Wallis, nach seinen geliebten Bergen, obwohl er nie ein grosser Bergwanderer gewesen sei, wie er mit einem Schmunzeln einräumt. Doch das Unterwegssein mit den Schafen in den Tälern vor dieser Bergkulisse habe er vermisst. 20 Monate verbrachte er in Nottwil, erkämpfte sich in unzähligen Therapie- und Übungsstunden ein Stück Mobilität zurück, das Sprechen zum Beispiel, trainierte das Vorankommen im Rollstuhl. Für seine Zeit in Nottwil findet er nur warme Worte, vor allem für seine «super Therapeutin» und das ganze Team. Trotzdem sei er glücklich gewesen, als er nach fast zwei Jahren wieder nach Hause durfte, ins Wallis, wo er in seinem gewohnten Umfeld einen ungewohnten Alltag aufnahm – ohne 200 Schafe, dafür mit zwei Rädern.
Und da kam die zweite Zäsur. Eines Tages beschloss der heute 65-Jährige, aus seiner Situation das Beste zu machen. «Statt ständig zu sehen, was ich nicht mehr konnte, wollte ich dem Herrgott dankbar sein, für das, was möglich ist und noch kommt. Dass ich jeden Morgen aufwachen und immer wieder einen neuen Tag erleben kann.» Seither gehe es «bärgüf», sagt er in seinem charmanten Walliserdeutsch.
«Bärgüf» ist nicht nur sinnbildlich gemeint. Alois Schmid erobert mit seinem Rollstuhl die Bettmeralp, das Bettmerhorn, die ganze Aletsch-Arena. Wie andere Gäste fühlt er sich dem Himmel näher, wenn er auf der Aussichtsplattform das Bergpanorama vor sich hat, den Aletschgletscher, das Unesco-Weltkulturerbe.

Ein ermutigendes Angebot
Dort hinzukommen, sei für ihn als Rollstuhlfahrer «sehr, sehr einfach», findet er und schwärmt von der zusätzlichen Zusatzverladerampe, den Auf- und Abladevorrichtungen, dem Lift, dem hilfsbereiten Personal, der Infrastruktur, die ihm als Rollstuhlfahrer den Ausflug erleichtere. Als «100 Prozent rollstuhltauglich» beurteilt er die Aletsch-Arena, er müsse auf gar nichts verzichten, nicht einmal auf den Besuch der Gletscherunterwelt auf zwei Etagen: «Da fühlst du dich wirklich wie mitten im Gletscher, ein sehr spezielles Erlebnis.» Und sogar die Hängebrücke sei rollstuhlgängig.
Als Elektroinstallateur habe er die einen oder anderen Vorrichtungen für Menschen im Rollstuhl bereits gekannt. Doch es sei ein Unterschied, ob man sie installiere oder eben selber brauche. Erst als Nutzer wurde ihm bewusst, dass nicht alles, was gut gemeint ist, wirklich taugt. Als Beispiel erwähnt er Knöpfe oder Knaufe zum Schliessen von Toiletten. «Tetraplegiker können diese gar nicht bedienen, sie brauchen eine Schlaufe oder einen Hebel.» Solche Anregungen gab er den Verantwortlichen der Aletsch Arena weiter. «Sie haben meine Hinweise sofort aufgenommen und umgesetzt, das war ein echter Aufsteller.» Manchmal seien schon einfache Provisorien eine grosse Hilfe, wie etwa die einfache Holzrampe bei der Walliser Stube vor dem Einstieg in die Bahn zum Bettmerhorn.
Ohne Stress im Zeitlupentempo
Den Berggenuss in der Aletsch-Arena teilt er am zweiten Augustwochenende wiederum mit seiner «Rollstuhlfamilie», der Schweizerischen Paraplegiker-Vereinigung Nottwil. Schon 2015, ein Jahr nach seinem Unfall, hat er den ersten Tagesausflug organisiert, damals noch im kleinen Kreis. Dann 2016. Dann 2017. Im 2018 schliesslich wagte er mit einem zweitägigen Ausflug eine Premiere – 35 Leute nahmen teil, und alle seien glücklich und erfüllt nach Hause gekehrt. «Ich habe nur positives Feedback erhalten, vor allem die Hilfsbereitschaft des Personals wurde sehr geschätzt.»
Auch er als Organisator sei rundum zufrieden gewesen. «Es gab null Stress, weil der offizielle Betrieb in der Aletsch-Arena wegen uns nicht eingeschränkt war. Wir wurden parallel befördert, in unserem Zeitlupentempo, ohne dass deswegen jemand hätte warten müssen. Eigens für uns waren drei zusätzliche Leute an diesem Tag im Dienst – so verlief das Ganze sehr entspannt.» Und auf der Aussichtsplattform hätten sich zwei Rollstühle problemlos kreuzen können, fügt er an.
Über 50 Anmeldungen
Beflügelt von den guten Erfahrungen, schrieb er wiederum einen zweitägigen Ausflug 2019 aus – und bereits im Juni lagen über 50 Anmeldungen auf dem Tisch.
Zum Mittagessen gehts aufs Bettmerhorn und am nächsten Tag ins World Nature Forum in Naters zu einem Vortrag. Und Rollstuhl hin, neues Leben her: Alois Schmid wäre nicht Alois Schmid, würde er sich damit zufrieden geben. Denn umtriebig ist der Walliser wie eh und je. So überraschte er seine Rollstuhlfamilie im vergangenen Jahr mit einer Verlosung, zu gewinnen gab es nichts Geringeres als einen Rundflug mit einer Piper-Maschine. Und ganz nebenbei organisiert er auch prominenten Besuch wie den CVP-Ständerat Beat Rieder. «S’Viola» (wie er Bundesrätin Viola Amherd liebevoll nennt – im Wallis kennt man sich eben) musste sich ferienhalber abmelden, versicherte aber, dass sie gerne gekommen wäre. Dass er als Organisator seine Heimat präsentieren dürfe, mache ihn glücklich, sagt Alois Schmid. Das tut er übrigens auch dann gerne, wenn kein Ausflug ansteht. «Auf meiner Wetter-App ist noch immer Nottwil installiert. Zeigt sie an, dass die Nottwiler im Nebel hocken, schicke ich ein Foto aus dem sonnigen Wallis.»
Franziska Hidber
Innovationspreis für Aletsch-Arena
Menschen mit einem Handicap sind für die Aletsch-Arena kein Handicap: Sie geniessen den Gletscher und das Bergpanorama auf zwei Rädern ohne Einschränkungen. Einfache Zufahrten, Lifte, spezielle Rampen, zusätzliches Personal sowie die rollstuhlgängigen Wege und die Aussichtsplattform ermöglichen auf 2700 Metern über Meer ein Naturerlebnis ohne Barriere. Die deutsche Stiftung Querschnittlähmung hat die Aletsch-Arena dafür im Jahr 2014 mit dem Innovationspreis ausgezeichnet.