Als Kind verlor sie auf der Flucht aus Tibet ihre Familie. Die kleine Tendol lebte im Flüchtlingsheim, schlief auf dem Fussboden der Schule. Später kam sie ins Pestalozzidorf Wahlwies, erhielt als erste Tibeterin im Exil das Diplom als Pflegefachfrau, gründete mit ihrem Mann eine Familie in der Schweiz. Heute gibt sie den Mädchen und Buben Tibets ein Zuhause.
Stellen Sie sich das vor: Sie sind etwa sieben Jahre alt. Und plötzlich finden Sie Ihre Eltern nicht mehr – Mama und Papa sind verschwunden, einfach weg. Der Bruder auch. Es fielen Schüsse, daran erinnern Sie sich noch. Sonst wissen Sie nichts. Sie sind mit fremden Menschen unterwegs, auf der Flucht über die steilen Pässe des Himalayas. Stunde um Stunde sitzen Sie auf dem Pferd, kennen niemanden. Nach einer nächtlichen Rast in einem unbekannten Dorf ist Ihre Gruppe plötzlich fort. Wohin? Sie haben keine Ahnung. Tendol wusste es ebenso wenig. Aber sie ahnte mit dem Instinkt eines Kindes, dass ihr Dasein in diesem Ort die schlechtere Variante sein würde. Vergass Müdigkeit, Durst und Hunger und rannte, rannte, rannte – bis sie ihre Gruppe wiederfand und mit ihr das Flüchtlingslager.
Wenn Tendol Gyalzur aus ihrem Leben erzählt, mutet es an wie ein Abenteuerfilm. Als hätte ein Drehbuchautor seine überschüssige Fantasie und eine Neigung für Dramatik ausgelebt. Aber Tendol braucht keine Fantasie, wenn sie am Stubentisch in ihrer Rapperswiler Wohnung sitzt und zurückschaut auf ihr unglaubliches Leben. Sie bricht ein Stück von der weissen Schokolade ab («Meine Lieblingssorte!»), fährt sich mit der Hand durchs kurze schwarze Haar und lacht: «Das ist einfach mein Leben, ich kenne kein anderes», sagt sie. Und: «Als Opfer habe ich mich nie gesehen. Natürlich hätte ich manchmal gerne Eltern gehabt, eine Umarmung von ihnen, Süssigkeiten.»
Sie spricht schnell und viel, in perfektem Deutsch und lacht gern. «Da, nehmen Sie doch auch noch Schoggi», ruft sie und fügt an: «Wissen Sie, immer wenn ich Hilfe gebraucht hatte, war jemand da – meine selbst ausgesuchten Ersatzmütter im Flüchtlingslager, die Menschen, die mich ins Pestalozzidorf nach Wahlwies schickten, meine Patin in Deutschland, die einen Ausbildungsplatz zur Pflegefachfrau organisierte. Das hat mich stärker geprägt als meine Mutterlosigkeit.»
Heute ist Tendol selber Mutter, und wie! Leibliche Kinder hat sie zwei, ihre Söhne Ghaden und Songtsen, die bereits selber Kinder haben. Sie hat sie in der Schweiz grossgezogen, zusammen mit ihrem Mann Lobsang, er stammt aus Tibet wie sie. «Meine Güte, was habe ich mit meinen Söhnen für einen Schnickschnack veranstaltet», erzählt sie und prustet los. «Stellen Sie sich vor, ich wusch die Windeln nicht nur, ich bügelte sie sogar! Ich sterilisierte ihre Nuggi, ihre Schoppen – jedes Mal nach Gebrauch. Ich begleitete meine Jungs auf Schritt und Tritt und ihre Freunde dazu!» Sie schlägt sich an die Stirn: «Das war meine Art der Kompensation.» Und zu kompensieren hatte die junge Mama einiges.
Reichtum Zahnpasta
In ihrer Kindheit waren Schmutz und Unrat stete Begleiter. Nie wird sie den Moment vergessen, als sie zum ersten Mal eine eigene Zahnpasta und eine Zahnbürste erhielt. «Ich fühlte mich wie eine Königin.» Damals schlief sie auf dem Boden der Schule, die sie besuchte, aber die Zahnpasta wog das fehlende Bett auf. Später hatte sie zwar ein eigenes Bett, doch als ihre Seife und ihr Handtuch abhanden kamen, bedeutete das eine Katastrophe. Ausgerechnet ihr junger Lehrer Lobsang, gefürchtet für seine strenge Hand und seinen Stock, schenkte ihr eine neue Seife und ein neues Handtuch.
Ihm begegnete sie viele Jahre später in Deutschland wieder. Tendol hatte gerade erst von der ungewohnten Freiheit gekostet – Party, Ausgang, ein eigenes kleines Appartement, das Diplom als Pflegefachfrau in der Tasche. Just da tauchte Lobsang auf. Ohne Stock, aber mit ernsthaften Absichten. «Ich hatte keine Schmetterlinge im Bauch, keine sexy Gefühle», erzählt Tendol freimütig. «Doch ich vertraute ihm. Ich erinnerte mich an die Seife und das Handtuch und wusste, dass er es ehrlich meinte.»
Die Liebe kam und blieb
Die Braut folgte Lobsang in die Schweiz, wo der Lehrer als Fabrikarbeiter eine Stelle gefunden hatte. Sie heirateten, obwohl noch immer Flugstille herrschte bei den Schmetterlingen. Für Tendol kein Thema: «Sexy Gefühle verschwinden wieder, wissen Sie. Aber die Liebe kam und blieb. Wir lieben uns schon seit 46 Jahren, und ohne die Unterstützung meines Mannes hätte ich das Kinderhilfswerk nicht umsetzen können.» Wie bestellt, betritt in diesem Moment Lobsang die Wohnung, die beiden strahlen sich an.
Sie sind nicht nur Eltern von zwei Söhnen und Grosseltern von vier Enkelkindern, sie haben rund 300 tibetische und chinesische Kinder sowie 50 Enkel. Als «Waiseneltern» sorgten und sorgen sie dafür, dass jene Mädchen und Buben in Tibet ein Dach und Betreuung erhalten, die es dringend brauchen – wie Tendol einst.



Dreck und Armut
Wie es dazu gekommen ist, dass Tendol 1993 das erste Kinderheim eröffnete, ist eine weitere ungewöhnliche Geschichte. Es begann damit, dass sie 1990 nach Lhasa reiste, um Gebete für ihren verstorbenen Schwiegervater zu sprechen. Statt schöner nostalgischer Gefühle erlebte sie einen Schock: Sie sah Kinder, die im Abfall nach Essen wühlten. Spontan lud sie zwei ausgehungerte Buben zu Nudelsuppe ein. Der Wirt wollte die drei rausschmeissen. Da tat Tendol etwas, was eine tibetische Frau in der Öffentlichkeit niemals macht: Sie wurde laut und begann mit dem Wirt zu streiten. Es wirkte. Danach sass sie mit den Jungs am Tisch, und alle assen Nudelsuppe. «Ungerechtigkeit kann ich nicht ertragen, das konnte ich noch nie», sagt sie.
Zwei Schlüsselszenen
Die Nudelsuppe wurde für die mutige Frau zur ersten Schlüsselszene: «Ich merkte, dass ich meine Ziele erreichen kann.» Die zweite folgte bei der Audienz eines Lamas, so werden die spirituellen Lehrer im Buddhismus bezeichnet. Eigentlich war Tendol auf der ebenso zeitraubenden wie erfolglosen Suche nach ihren leiblichen Verwandten. Der Lama fragte erstaunt: «Alle Lebewesen sind unsere Verwandten. Das Leben ist kurz. Weshalb investierst du deine Zeit nicht in deine anderen Verwandten?» Da habe es bei ihr klick gemacht. Und sie fasste einen Entschluss: Sie würde den Kindern helfen, die im Abfall nach ihrem Essen suchen müssen.
Zurück in der Schweiz, brachte sie die Bilder nicht mehr aus dem Kopf. Das Gewissen nagte an ihr. Sie sah ihre Söhne, inzwischen mitten im Flegelalter. Jugendliche, denen es gut ging, die alles hatten: Nahrung, eine Ausbildung, eine Wohnung, Hobbys. Und sie erkannte, dass das, was sie bisher als Probleme bezeichnet hatte, gar keine Probleme waren. Sie hörte auf ihr Gewissen, liess die Jungs bei Lobsang in der Schweiz, investierte ihre bescheidenen Ersparnisse, gründete das Kinderhilfswerk und das erste Kinderheim – in dieser Art ein Novum in Tibet.
Lebensaufgabe für alle
Seither ist viel passiert. Die Söhne haben der Mutter längst verziehen, dass sie damals nach Tibet flog. Sie unterstützen das Hilfswerk tatkräftig – genau wie Lobsang, der inzwischen mit Tendol einige Monate im Jahr in Tibet verbringt. Mit den Jahren haben sich die Probleme verändert. «Es gibt weniger Armut und weniger Waisen», bilanziert Tendol, «dafür mehr drogen- und alkoholsüchtige Eltern, Vernachlässigung.» Dass sie ihre Eltern verloren hat, habe im Nachhinein etwas Gutes: «Sonst hätte ich nie dieses Kinderhilfswerk gegründet.» Es sei längst für die ganze Familie zur Lebensaufgabe geworden. Das Schönste daran? «Die vielen Menschen und Behörden, die hinter uns stehen.» Und die strahlenden Augen der Kinder an den Festen: «Wir feiern alles. Das chinesische Neujahr, die Geburt Buddhas, Weihnachten. Es geht dabei nicht um Religion, es geht um Freude. Für mich ist die Freude der Kinder heilig», sagt Tendol und bricht sich noch ein kleines Stück weisse Schokolade ab.
Franziska Hidber

Buchtipp: Ein Leben für die Kinder Tibets
Die Winterthurer Autorin und Journalistin Tanja Polli hat die unglaubliche Geschichte von Tendol Gyalzur und ihrer Familie zu Papier gebracht. Dafür ist sie mit Tendol und Lobsang nach Tibet gereist und hat sich mit ihr durch die Fotoalben geblättert. Entstanden ist eine lebhafte Dokumentation mit zahlreichen Bildern, erschienen im Wörterseh Verlag.
