Bereits 930 nach Christus werden die wunderfitzigen und klugen Schwarzhalsziegen erstmalig erwähnt. Damit gehören sie zu den ältesten Haustierziegen der Welt.
Historischen Berichten zufolge seien die «Gletschergeissen», wie die Schwarzhalsziegen auch genannt werden, von afrikanischen Völkern um das Jahr 900 über das Rhonetal ins Wallis gekommen. Andere Theorien deuten darauf hin, die Schwarzhalsziege stamme von der italienischen Kupferziege ab – man weiss es nicht genau. In der Region um das Vispertal züchtet man sie seit Generationen, und inzwischen tummeln sich einige Schwarzhalsziegenherden auch in der ganzen Schweiz. Man erkennt sie schon von Weitem: Ihr Markenzeichen, das typisch schwarz-weisse lange Haarkleid mit der beinahe geometrischen Farbtrennung, sieht sehr ungewöhnlich aus. Die vordere, kohlschwarze Körperhälfte ist durch eine scharfe Linie von der schneeweissen Nachhand getrennt. Auch bei den Klauen wird schwarz-weiss konsequent durchgezogen, vorne schwarz, hinten hell. Diese attraktive Erscheinung machte sie zum beliebtesten Postkartenmotiv des Wallis.
Die Kuh des armen Mannes
Vielerorts in der Schweiz waren Ziegen früher die wichtigsten Haustiere, lieferten sie doch ohne grossen Nahrungsaufwand schmackhaftes Fleisch und Milch. Zwar ist die Jahresmilchmenge mit etwa 600 Kilogramm bei den Gletschergeissen nicht sehr hoch, allerdings benötigt sie dafür auch kein Kraftfutter, sie kommen mit dem Weideaufwuchs selbst karger Gebirgsgegenden zurecht. Sie sind sehr genügsam, widerstandsfähig und bestens geeignet für den Einsatz in der Landschaftspflege in Mittel- und Hochgebirgen. Walliser Schwarzhalsziegen lieben auch Blattpflanzen und Kräuter. Disteln, Äste, Rinde und Tannenzweige sind ebenso eine willkommene Abwechslung im Speiseplan.
Mit ihrem zotteligen Fell und den imposanten Hörnern entsprach die Schwarzhalsziege nicht unbedingt dem Zuchtziel, denn im ausgehenden 19. Jahrhundert standen bei Ziegen drei Zuchtziele im Vordergrund: hohe Milchleistung, Kurzhaarigkeit und Hornlosigkeit. Man war der Meinung: «Je wehrloser das Tier, umso leichter ist mit ihm umzugehen!» Dennoch sah man damals schon etliche Schwarzhalsziegen auf Schweizer Weiden.
Interessant ist auch die Entwicklung der Haarlänge dieser Rasse. Noch zu Beginn des 20. Jahrhunderts zeigen Bilder die Ziegen mit kürzeren Haaren. Eine «Bodenfreiheit» von 20 bis 30 Zentimeter machte die Haltung in der landwirtschaftlichen Produktion sinnvoll. Heute tragen viele Ziegen extrem lange Haare, die natürlich einer intensiven Fellpflege bedürfen.
Bedrohte Rasse
In den 1970er-Jahren war der Fortbestand der Rasse stark gefährdet. Der Bestand in der Schweiz betrug nur noch 440 reinrassige Tiere. Nachdem sich eine Reihe von Privatpersonen und Vereinen für den Erhalt dieser Rasse engagierten, konnte der Bestand 1999 wieder reguliert werden und lag bei 274 Böcken und 1297 Herdebuchgeissen. Ihr Anteil unter dem Schweizer Gesamtbestand an Ziegen betrug damit 11,6 Prozent. Die Schwarzhalsziege steht unter Artenschutz der Pro Specie Rara.
Heini und die Ziegen
Einer, der ebenso einen Narren an den Geissen gefressen hat, ist Heini Gubler aus Hörhausen (TG). Eigentlich ist er Nussspezialist und weit über die Grenzen bekannt für seine Baumnüsse. Als junger Bub half er während der schulfreien Zeit seiner Grossmutter auf dem Bauernhof. Dort durfte er Geissen halten und verfiel schnell deren Charme. Ihr stark ausgeprägter Charakter, ihre Vitalität und ihre strenge Hierarchie faszinierten Heini schon damals. «Man kann so viel von den Geissen lernen.»
Als seine eigenen Kinder noch klein waren, war somit die Frage nach einem Haustier schnell beantwortet. Die Familie entschied sich für Schwarzhalsziegen und Kupferziegen. Das war vor fast zwanzig Jahren, und seitdem grasen Gletschergeissen genüsslich auf dem grosszügigen Grundstück der Familie Gubler. «Es ist einfach schön zu sehen, wenn die gerade ein paar Tage alten Geissen voller Lebenslust umherspringen und miteinander spielen.» Einmal brachten die Gublers ihre Geissen zur Sömmerung auf die Alp, doch diese Idee entpuppte sich als kleines Desaster. Die Ziegen verwilderten und schlossen sich einer wilden Steinbockherde an. Nur mit äusserster Mühe konnten sie die Geissen wieder zurückholen, denn sie sind optimal an schwieriges Gelände angepasst und wandern gern und viel. Dabei erklimmen sie Grate und Felsvorsprünge genauso wie ihre Verwandten, die Steinböcke.
Eine strenge, aber soziale Hierarchie
Wer die bewegungsfreudigen Ziegen führen will, muss so einiges beachten. Sie brauchen viel Platz, um ihre ausgeprägte Rangordnung leben zu können. Ziegenherden sind immer Mutterclans mit ihren Töchtern und deren Töchtern und so weiter. Es herrscht ein strenges Matriarchat und eine enge soziale Bindung unter den Tieren. Verwilderte Ziegen leben meist in Gruppen von bis zu 20 Tieren, vergleichbar mit einem Familienclan. Die geschlechtsreifen Böcke sondern sich ab, um eine eigene Herde zu gründen. Ähnlich verhält es sich bei unseren domestizierten Ziegen. Deshalb sollte man die Böcke nach Brunstzeit separat halten. Chefin der Herde ist meist eine alte, erfahrene und kräftige Ziege. Sie führt die Gruppe auf die Weide und zum Stall. Achtet man darauf, dass man die Führungsziege immer angemessen behandelt und ihr Extras zukommen lässt, verhält sie sich ihrem Menschen gegenüber solidarisch. Also aufpassen beim Knuddeln junger Ziegen, die Chefin könnte «not amused» sein, wenn sie nicht genügend Aufmerksamkeit erhält. Als «Ziegenhirte» muss man sich erst qualifizieren. Merken die Ziegen, dass man unsicher ist, folgen sie nicht mehr.
Meckern gehört zum Handwerk
Fälschlicherweise wird das Meckern der Ziegen als Zeichen der Unzufriedenheit angesehen. Doch Ziegen meckern aus einem ganz anderen Grund. Es dient der sozialen Kommunikation untereinander. Biologen der ETH Zürich haben das Gemecker der Ziegen analysiert und Teile ihrer Sprache entschlüsselt. Mutterziegen erkennen ihr Kitz an der Stimme und umgekehrt. Doch nicht nur das, sie erkennen auch an der Stimmlage die emotionale Verfassung ihres Sprösslings. Die Jungen entwickeln in ihren «Spielgruppen» sogar einen eigenen «Slang».
Anne Weber