Der Mann muss seine Rolle in der Gesellschaft neu definieren. Das ist nicht einfach, denn es lauern viele Fallstricke. Die Geschichte des modernen Mannes (Teil 2).
Nun, während wir uns im letzten «Mann-oh-mann» primär mit der Entwicklung der Frau seit den 70er-Jahren bis heute beschäftigt haben, um überhaupt aufzeigen zu können, warum die Bedeutung des «Mannseins» sich in einem kurzen Lebenszeitalter markant verändert hat, stehen nun doch einige offene Themen im Raum. Es bleiben zwei fundamentale Fragen übrig. Wie hat sich das Verhältnis des Mannes zur Frau in der Ehe oder, weitaus moderner, zu seiner «Lebensabschnittspartnerin» verändert? Oder die übergeordnete Frage: Wie hat sich der moderne Mann seiner neuen Rolle in der Gesellschaft angepasst? Da es in der Regel sinnvoller ist, zuerst das Pferd aufzuzäumen und sich dann für einen Reitstil zu entscheiden, widmen wir uns heute einmal dem neuen Rollenverständnis.
Skandal oder nicht Skandal
Werfen wir einen kurzen Blick zurück. Skandale jedwelcher Couleur gab es schon immer: Affären, Seitensprünge, Betrug, müssig, weitere Synonyme aufzuzählen. Dies unabhängig vom Geschlecht. Bekannt wurden diese in der Vergangenheit meist bei Persönlichkeiten, die selbst schon bekannt waren, also entweder berühmt durch ihre besonderen Fähigkeiten oder von adeliger oder sogar hochadeliger Herkunft waren. Ganz egal, ob wir nun Goethe oder Katharina die Grosse in unser Palmarès aufnehmen, der Skandal reiste immer mit. Doch grosse Persönlichkeiten waren immer in einer gewissen Weise unantastbar, man konnte es zur Kenntnis nehmen, bisweilen auch neidisch bewundern, dagegen tun konnte der Mann auf der Strasse nichts. Oder er wollte auch nichts dagegen tun. Als Beispiel dienen etwa ehemalige französische Staatspräsidenten, bei denen es fast schon zum guten Ton gehörte, sich eine Geliebte zu halten. Mitterand hatte eine – lange Zeit unbemerkte – uneheliche Tochter, Hollande fuhr Roller mit seiner Maitresse, während sich seine Fast-noch-Ehefrau in den Wahlkampf mischte. Auch Paul Bocuse, der zu den grössten Küchenchefs des vergangenen Jahrhunderts zählte, führte, in aller Öffentlichkeit, eine Art «Doppelehe». Und er kochte, wie es nur Götter in Frankreich tun. Also vergeben und vergessen.
Vive la France. Was in unserem Nachbarland mit einem anerkennenden «Et voilà …» goutiert wird, würde in der Schweiz wohl zur gesellschaftlichen Hinrichtung eines Politikers führen. In den USA hat die «…grab the pussy»-Debatte hingegen einen neuen Präsidenten hervorgebracht. So weit, so gut oder – eher – so weit, so schlecht.
Zeit der Medien
Dass es im täglichen Leben ganz anders gekommen ist für Herrn Otto Normalverbraucher, wie es die Deutschen mit ihrem ganz eigenen Humor benennen, ist allerdings etwas Neues.
In einer Zeit der Massenmedien und – zusätzlich – einer Ära von Social Media haben sich Informationen aufgestaut und Bewegungen entwickelt. Die in den letzten Jahren immer wieder aufgetauchten Berichte über pädophile Priester etwa. Und das in Ausmassen, die erschüttern, man denke an jüngste Entwicklungen in Pennsylvania. Oder die Affäre um einen hormongesteuerten Hollywood-Produzenten, die letzten Endes die #me-too-Debatte ausgelöst hat. Männliche Potentaten, die ihre Macht ausnützen, um letzten Endes Kinder, Jugendliche oder Frauen – die in einer gewissen Abhängigkeit stehen – zu missbrauchen.
Das hatte, das hat Einfluss auf den modernen Mann, der sich in selbst auferlegter Zurückhaltung üben muss. Die herzliche Umarmung einer attraktiven Bekannten zur Begrüssung zum Abendessen, die vielleicht einen Augenschlag zu lange gedauert hat und etwas zu «herzlich» war? Abgestempelt als potenzieller «Grabscher». Die gleiche Frau, die offenherzig Einblicke in ihren Ausschnitt gewährt, und der Blick des Mannes verweilt eine Millisekunde zu lange auf dem, was ihm dargeboten wird? Ein «Spanner». Das Trösten des Mädchens der Besucherin, das im Garten auf die Knie gefallen ist und sich wehgetan hat? Ein zartes Streicheln über das Haar, eine kleine Umarmung zum Trost. Vorsicht: Allzu schnell wird man zum Pädophilen. Während sich Frau in dieser Hinsicht praktisch alles erlauben kann, beim Mann wird das schnell zum Problem. Und einmal abgestempelt, immer abgestempelt.
Der übervorsichtige Mann
Besonders schlimm können solche Situationen am Arbeitsplatz werden. Die Kollegin ist befördert worden oder hat eine Prüfung bestanden, Mann möchte herzlich gratulieren. Geht nur, wenn andere mit im Raum sind, sonst läuft man Gefahr, dass eine Umarmung ausserhalb der büroüblichen Norm als sexuelle Belästigung gedeutet werden könnte. Oder der Kindergeburtstag mit zehn Mädchen an einem Tisch. Bloss keine Berührungen, und seien sie noch so harmlos. Die nächste Helikopter-Mami wartet nur darauf.
Mann ist also (über)vorsichtig geworden, die äusseren Umstände haben ihn dazu gezwungen. Da er sich also zurückhaltend zeigt, läuft er Gefahr, dass ihm von der anderen Seite her das Fehlen von Empathie, also dem Zeigen von (Mit)Gefühl, vorgeworfen wird. Es wird mehr und mehr zu einem Balanceakt, das richtige Mass zu finden. Und wieder ist es Zeit, die passende Rolle zu suchen. Dazu gibt es keine gescheiten Bücher, denn das hängt einfach von der Situation ab. Mann wird also dazu angehalten, mit seinen Gefühlen gegen aussen sparsam umzugehen. Doch das kann letzten Endes an seiner Seele nagen.
Roland Breitler