Im letzten «Mann-oh-mann» hatten wir uns mit dem Heldentum beschäftigt und uns die Frage gestellt, wie der Mann von heute zum Helden werden kann. Vielleicht macht es Sinn, diese Frage von einer ganz anderen Seite her aufzurollen. Ein Versuch.
Ich erinnere mich viele Jahre zurück, ich war vielleicht sechs oder sieben Jahre alt. Wir waren erst gerade vom Bodensee an einen neuen Ort, ein Dorf damals, in der Nähe von St.Gallen hergezogen, und meine Mutter hatte damals Kontakt zu einer Bauersfrau gefunden, die zusammen mit ihrem Mann einen kleinen Hof bewirtschaftete, einen klassischen Kleinbauernbetrieb, wie es ihn damals in den 1960er-Jahren noch gab.Ihr Mann, nennen wir ihn Hans G., litt schon damals unter einer Krankheit, die wir damals als Laien nicht richtig einordnen konnten. Es lässt sich heute nach Rücksprache mit Medizinern vermuten, dass es eine Art Diabetes war, heute leicht zu behandeln, vor 50 Jahren indes oft eine Krankheit mit fatalen Folgen. Alles begann damit, dass sich Hans G. zuerst einige Zehen amputieren lassen musste, dann folgte der ganze Fuss, dann der Unterschenkel bis zum Knie. Natürlich fiel es ihm immer schwerer, den kleinen Hof zu bewirtschaften, zumal die Krankheit, langsam, aber tückisch, auch die ersten Finger befiel, die ebenfalls entfernt werden mussten.
Ich fuhr damals oft mit dem Kindervelo an dem Hof vorbei und sah den Bauern, auf einer Krücke humpelnd, wie er seine Kaninchen versorgte. Kinder sind oft grausam und machen sich über Schwächen anderer lustig, doch ich wusste, dass meine Mutter und seine Frau befreundet waren, und das Bild machte mich traurig.
Der Weidenkorb
Kurz vor Weihnachten wollten meine Eltern und ich Familie G. besuchen. Wir hatten kein Auto und liefen daher die Wegstrecke zu dem Hof. Mein Vater hatte einen Weidenkorb unter dem Arm, und ich durfte helfen, diesen zu füllen. Darin waren Köstlichkeiten wie Rollschinkli, Salami, Landjäger, ein paar Dosen, eine Flasche Wein, Teigwaren, Kaffee, auch Süssigkeiten. Es sah schön aus, doch die Idee dahinter begriff ich damals noch nicht so richtig. Das hatten wir doch eigentlich alles zu Hause, wozu sollten wir das als Geschenk mitnehmen?Geschenke zu Weihnachten sahen doch in der Regel ganz anders aus!
Von Weitem sah der Hof noch ganz passabel aus, aus der Nähe sah ich, dass die Schindeln abbröckelten, die kleine Treppe zur Eingangstüre war ebenfalls am Zerfallen. Ein Fenster, daran erinnere ich mich ganz genau, hatte einen Sprung. Ich erinnere mich auch an ein gewisses Unbehagen, vielleicht sogar ein Gefühl der Angst. Was wollten wir hier mit unserem Korb? In dieser Umgebung? Wir wohnten selbst ziemlich bescheiden, doch bei unserem Daheim war doch alles ziemlich neu und proper. Hier aber atmete alles den Geruch des Zerfalls. Das spürt auch ein Kind. Als meine Mutter an die Tür klopfte, öffnete Frau G. Neben ihr stand «Hansli», der etwa vierjährige Sohn, von dem ich schon gehört hatte. Wir wurden sehr herzlich begrüsst, offensichtlich hatte meine Mutter den Besuch angekündigt. Wir wurden in die kleine, bescheidene, aber blitzsaubere Stube geführt, wo auch Hans G. uns schon erwartete. Er stützte sich auf den Tisch, die eine Krücke lag beiseite auf dem Stuhl. Auch er begrüsste uns nicht minder herzlich. Nach den üblichen Grussformeln – ein Kind empfindet das als fürchterlich langweilig – servierte der Gastgeber für die Erwachsenen einen selbst gebrannten Schnaps. Hansli und ich bekamen einen Süssmost, das war schon besser.
Es hatte – und hat in meiner Erinnerung – schon etwas Seltsames, als mein Vater den gefüllten Korb auf den Tisch stellte. Er war wohl ein klein wenig verlegen und murmelte etwas von «etwas Mitgebrachtem für Weihnachten, einfach so, von uns». Und dann fing die Familie an, zusammen auszupacken, und da war gleichsam so viel Freude, aber vielleicht auch ein Teil von Beschämung in der Luft. Kinder spüren das, können es aber nicht in Worte ausdrücken.

Kein Wort des Jammers
Hans G. servierte einen zweiten Selbstgebrannten, und wir Kinder bekamen mehr Süssmost. Frau G. hatte auch ein paar Mailänderli gebacken und machte dazu Kaffee. Die Stimmung wurde locker, das Gespräch kam auch kurz auf die Krankheit von Hans G., doch dieser wischte das Thema eher vom Tisch, es sei halt nun mal so, dass er wieder einmal «etwas wegmachen müsse». Vielleicht noch mal zwei Finger, vielleicht ein paar Zehen des anderen Fusses, er ging nicht weiter darauf ein. Aber er jammerte nicht, er schien mir fröhlich.
Wir besuchten Familie G. von nun an etwa zweimal pro Jahr «offiziell». Immer wieder mit einem frisch gefüllten Korb, ein jedes Mal ging es Hans G. schlechter. Meine Eltern hatten mir erklärt, dass die Familie kaum Geld hatte, um über die Runden zu kommen, dass sie es aber abgelehnt hätten, Geld anzunehmen, deshalb brächten wir halt ein «Fresspäckli». Der Ablauf war fast immer derselbe, nur dass Hans G. bei unserem letzten Besuch sich kaum mehr auf den Beinen halten konnte, weil der zweite Fuss amputiert worden war und er dort eine Prothese trug, das andere Bein war ja bis unter das Knie entfernt worden. Trotzdem versorgte er noch seine Chüngeli, mit dem Verkauf konnte er etwas in die Haushaltskasse beisteuern, der Rest des Viehs war längst verkauft, der Hof verlotterte zusehends und Frau G. hatte eine Vollzeitstelle als Putzkraft in einem nahe gelegenen Unternehmen angenommen. Und Hans G. freute sich wie immer über unseren Besuch, denn wir waren wohl die Einzigen. Er war immer fröhlich und gastfreundlich, und niemals habe ich ein Wort des Jammers von ihm gehört, obwohl er nun wirklich allen Grund dazu gehabt hätte.
Einmal hatte ich mir von meinem wenigen Taschengeld eine Tafel Schokolade abgespart, die ich dann Hansli mitbrachte. Ich war echt stolz über meine «Heldentat», doch die Freude von Hansli hat mich noch viel mehr gefreut. Übrigens haben wir die Tafel dann zusammen gegessen, darauf hatte Hansli dann doch bestanden. Damals habe ich begriffen, was Schenken bedeutet. Es bedeutet, etwas zu geben, das Freude macht und für das man selbst ein kleines Opfer eingeht. Einige Jahre später, Hansli hatte eine Lehrstelle bei der Post bekommen, ich war am Gymnasium, starb Hans G. Die letzten Chüngeli wurden verkauft, der Hof ebenso, an seiner Stelle steht heute irgendeine Autobahnzufahrt. Die Spuren der Familie G. verloren sich irgendwo. Doch werde ich die Geschichte nicht vergessen können, sie hat sich eingebrannt.

Loslassen können
Sprachen wir nicht über Helden? Hans G. erinnert mich an Hiob, der unsägliche Leiden zu erdulden hatte und trotzdem an seinem Glauben festhielt. Hans G. hielt an seiner Familie fest und an demjenigen Punkt seines Lebens, wo «sein Hansli» nun eine gute Lehrstelle hatte und seiner Mutter zur Seite stehen konnte; da hat er losgelassen, hat loslassen können. Er war fröhlich, als er Besuch hatte, und ich weiss, dass er froh war, wenn er sich um seine Kaninchen kümmern konnte. Und niemals habe ich Worte des Jammers gehört.
Als es darum ging, über «moderne» Helden zu schreiben, ist die Geschichte von Hans G. plötzlich wieder in der Erinnerung aufgetaucht. Ich empfand – und empfinde so noch immer – es schon als heldenhaft, wie dieser Mann, der von so viel Unbill gebeutelt war, immer noch so fröhlich, so zugewandt, so gastfreundlich sein konnte, so verantwortungsvoll war für seine kleine Familie und – zumindest gegen aussen – nicht mit seinem Schicksal haderte. Wer weiss, wie es ihm in einsamen Stunden ging. Dies ist vielleicht nur ein Schicksal von vielen, vielleicht kennen Sie ähnliche Lebensläufe. Doch wenn wir uns schon mit Heldentum beschäftigen, so war es mir wohl ein Anliegen, diese Geschichte zu erzählen.
Roland Breitler
Die unsichtbaren Helden
Es braucht wenig Weitsicht, sich mit den Helden und Heldinnen der heutigen Zeit auseinanderzusetzen. Es sind nicht die Trumps und Putins, es sind nicht die Neymars oder Hamiltons, nicht die Schauspieler Hollywoods, nicht die Royals dieser Welt; die wahren Helden von heute sind von stiller Natur. Es macht hier keinen Sinn mehr, Frauen und Männer zu unterscheiden. Denken wir an die «Médecins sans frontières», die «Ärzte ohne Grenzen», von denen wir kaum die Namen kennen, die aber unter akuter Lebensgefahr in unter Dauerbeschuss stehenden irakischen Städten, unter primitivsten Bedingungen, versucht haben, Kriegsverwundete zu retten. Oder in Afrika unter einem Hochrisiko daran gearbeitet haben, die Ausbreitung von Ebola zu verhindern. Denken wir an die IKRK-Delegierten, die mit zu Unrecht Inhaftierten arbeiten, denken wir an die Mitarbeitenden des Schweizerischen Katastrophenhilfekorps, die weltweit in von Krisen betroffenen Gebieten zum Einsatz kommen – oft unter Lebensgefahr. Indes, wir brauchen nicht über die Landesgrenzen hinauszuschauen. Die Einsatzkräfte der Rega, die lokalen Bergretter, auch sie leisten Aussergewöhnliches. Doch auch Polizisten, Notärzte, Sanitäter, Feuerwehrleute, die immer mehr zu Zielscheiben eines ungehemmten Pöbels werden. Helden? Ja. Meist unbekannte Helden, deren Namen wir kaum je in einer Zeitung lesen werden. Helden, die sich Tag für Tag beweisen müssen und dafür nur zu selten genau jene Anerkennung erhalten, die sie eigentlich verdienen.