Die Wahrscheinlichkeit seltener Ereignisse wird oft überschätzt. Das gilt insbesondere für medienwirksame Ereignisse wie Flugzeugabstürze oder Terroranschläge. Stille Risiken wie Diabetes oder Herzkreislauf-erkrankungen werden hingegen eher unterschätzt. Welche Befürchtungen Schweizerinnen und Schweizer wirklich haben und wer von Angstmacherei profitiert, erklärt der Psychologe Michael Siegrist von der ETH Zürich, der das menschliche Risikoverhalten erforscht.
Welche Risiken beschäftigen Schweizerinnen und Schweizer?
Darüber gibt am besten das Sorgenbarometer der Credit Swiss Auskunft, eine repräsentative Umfrage darüber, was den Bürgerinnen und Bürgern am meisten Sorgen bereitet. 2018 waren das die Altersvorsorge bzw. AHV, die Gesundheit / Krankenkassen und die Immigration. Das Sorgenbarometer für 2019 wurde noch nicht publiziert, wahrscheinlich wird dieses Jahr die Sorge bezüglich der Klimaerwärmung höher gewichtet sein aufgrund der Präsenz des Themas, doch erfahrungsgemäss wird diese Sorge dann auch wieder weniger, gerade wenn es wirtschaftlich schwieriger wird.
Welche Risiken werden überschätzt?
Risiken, die auffallen und die mit einer Geschichte verbunden sind, wie Flugzeugabstürze und Terrorismus. Solche Ereignisse können wir nicht kontrollieren, es sind Risiken, die wir nicht freiwillig eingehen, zudem ist bei solchen Ereignissen eine grosse Zahl an Personen betroffen. Diese Risikocharakteristika führen zur Überschätzung. Stille Risiken hingegen wie Diabetes und Herzkreislauferkrankungen werden unterschätzt, Risiken also, die beispielsweise mit dem Lebensstil zusammenhängen und Konsequenz aus vielen Einzelentscheidungen sind.
Welche Rolle spielen die Medien dabei, dass gewisse Risiken überschätzt werden?
Sie spielen insofern eine Rolle, als dass diese Risiken für die Medien interessanter sind, da solche Ereignisse nicht so oft auftreten und eine Neuigkeit darstellen. Die Medien können durchaus dazu beitragen, dass wir eine etwas verschobene Wahrnehmung haben und mehr darauf fokussieren als auf langweilige Risiken, die erst über längere Zeit viele Todesopfer fordern.
Wie beurteilen Sie diese Rolle der Medien?
Daran kann man wohl nichts ändern. Es ist die Logik der Medien, dass publiziert wird, was Aufmerksamkeit generiert, und dass eher auf Negatives fokussiert wird als auf Positives. Es würde aber zu kurz greifen, dafür nur die Medien verantwortlich zu machen. Wir sind so, das zeigen Studien: Wenn man Leuten positive und negative Informationen gibt, fokussieren sie länger auf die negativen als auf die positiven und gewichten sie auch stärker. Es gibt aber sicherlich viele Exponenten, die Risiken bewirtschaften.
Wer profitiert von Angstmacherei?
Es fängt an bei Versicherern; viele Menschen sind doppelt versichert oder für Sachen versichert, die man selber berappen könnte und keinen Sinn machen. Wenn man an den Wahlkampf denkt: Auch die Parteien wollen ihren Wählern Angst machen, sodass diese ihre Themen als wichtig empfinden. Bundesämter, die eine Daseinsberechtigung brauchen; ebenso Wissenschaftler, die ein Interesse daran haben, dass ihre Themen als zentral und relevant angesehen werden. Auch NGOs sind aus diesem Grund Weltmeister in der Bewirtschaftung von Risiken.
Die Angst vor dem Klimawandel ist aber begründet.
Ich bin kein Klimawissenschaftler; aber was im Moment vergessen geht, ist, dass wir noch andere Risiken haben, die ernst genommen werden sollten, wie eine globale Pandemie oder ein möglicher Weltkrieg. Es gibt schreckliche Szenarien, die in der Vergangenheit auch nicht vorausgesehen wurden. Ich kritisiere die Klimabewegung in keinster Weise, jedoch aber die momentane Monothematik. Wir haben Probleme, die man in vier Jahren lösen könnte, z. B. die Probleme bei der Altersvorsorge, von denen die nächste Generation zu 100 Prozent betroffen sein wird. Ich wundere mich, dass die Jungen, die betroffen sind, sich nicht wehren, obwohl die Umverteilung von Jungen zu Alten bereits stattfindet.
Ein weiterer systemischer Wandel betrifft die Technik. Wie sehen Sie hier die Risiken?
Bisher hat – allen Unkenrufen zum Trotz – der Fortschritt immer dazu geführt, dass es uns wirtschaftlich besser ging. Jeder technische Fortschritt war mit der Prognose verbunden, dass Arbeitsplätze verloren gehen würden. Natürlich wird es Veränderungen geben, einige werden zu den Verlierern gehören, andere zu den Gewinnern, das war auch in der Vergangenheit so. Als die Autos aufkamen, waren die Pferdehändler im Nachteil. Ein gewisses Risiko ist, dass wir uns mit den heutigen technologischen Möglichkeiten Richtung Überwachungsstaat entwickeln. Überall werden Daten über uns gesammelt, alle wollen das Beste für uns. Dass dies wirklich der Fall ist, wage ich zu bezweifeln. Es ist nur ein kleiner Schritt vom Sammeln dieser Daten bis zu einer Wirklichkeit wie in China, wo man die Leute damit so steuern will, dass sie sich in gewünschter Weise verhalten. Was auf der Strecke bleibt, ist die Freiheit, selber zu entscheiden.
Schlagzeilen zu Pestiziden im Trinkwasser und die Trinkwasserinitiative beschäftigen zurzeit viele Menschen. Wie schätzen Sie das Risiko diesbezüglich ein?
Das Problem ist, dass Laien oft die Dosis nicht berücksichtigen. Toxikologen ist klar, dass nicht die Substanz an sich gefährlich ist, sondern dass es darauf ankommt, wie stark man exponiert ist. Laien haben oft Mühe zu verstehen, dass etwas je nach Menge gefährlich sein kann oder eben nicht. Die Sorge um die Gesundheit aufgrund von Rückständen im Wasser widerspiegelt das intuitive Verständnis von Laien. Deshalb machen sich Laien wahrscheinlich mehr Sorgen, als notwendig wäre.
Subjektiv habe ich das Gefühl, dass die Menschen heute in vielen Belangen mehr Angst haben als früher.
Ich kenne keine Daten, wie die Angst sich in den letzten 100 Jahren verändert hat. Sicherlich sind es andere Dinge, die wir als riskant einschätzen, als vor 100 Jahren. Es gab keine Versicherungen, die Leute haben sich bestimmt viele Sorgen gemacht, krank zu werden oder die Arbeit zu verlieren. Die wichtigsten Risiken konnten wir ausschalten, darum haben wir auch eine viel höhere Lebenserwartung als vor 100 Jahren, viel weniger Leute sterben z. B. bei Arbeitsunfällen, auch Armut war ein hoher Risikofaktor.
Ich dachte nicht so weit zurück, eher an die 80er-Jahre. Früher trugen die wenigsten einen Helm beim Skifahren oder Velofahren, auch die Kinder schienen weniger behütet worden zu sein.
Einverstanden. Heute ist vielleicht die Frage, wer sich verantwortlich macht, mehr im Fokus, die Frage nach juristischen Konsequenzen. Beim Velohelm geht es auch um soziale Normen. In Holland beispielsweise wird man mit Velohelm eher schief angesehen, bei uns hingegen gilt man fast als unverantwortlich ohne Helm.
Sind Schweizerinnen und Schweizer besonders risikobewusst?
Zumindest schliessen wir sehr viele Versicherungen ab. Ich kenne aber keine Vergleichsdaten, ob die Schweizer besorgter sind als andere.
Eine zentrale Angst ist diejenige ums Kind – daran ändert natürlich auch die hohe Lebenserwartung der heutigen Kinder nichts.
Die Lebenserwartung für ein 2018 geborenes Mädchen liegt bei 85, bei einem Jungen bei 82 Jahren. Frauen haben unverändert eine deutlich höhere Lebenserwartung. Bei allen Diskussionen über die Nachteile der Frau, hier ist nun mal der Mann im Nachteil, zum Teil weil er risikofreudiger ist, zum Teil aufgrund gefährlicherer Berufe. Auch ist die Suizidrate bei Männern höher als bei Frauen. Es gäbe also auch Gebiete, in denen man den Bedürfnissen der Männer mehr Beachtung schenken sollte, d. h. meiner Meinung nach wäre es sinnvoll, Suizidprävention speziell auf die Zielgruppe der jungen Männer zu betreiben.
Ängste sind oft irrational. Wie kann man Ängste besiegen?
Ängste helfen uns auch, richtige Entscheidungen zu treffen. Wir springen nicht aus dem 5. Stock oder gehen auf der Autobahn spazieren, Ängste sind demnach sehr nützlich, um uns vor gefährlichen Situationen zu schützen. Sie können uns durchaus wichtige Informationen liefern, auf die es sich zu achten lohnt. Schwierig wird es erst, wenn die Angst überhandnimmt und zu einer psychischen Belastung wird, sodass im Alltag Dinge vermieden werden, d. h. wenn die Angst dysfunktional wird.
Wovor fürchten Sie sich persönlich am meisten bzw. was vermeiden Sie, weil Ihnen das Risiko zu gross ist?
(Überlegt lange) Es gibt gar nicht so viel, ich bin optimistisch, ich könnte jetzt gar nichts sagen, was ich nicht mache aufgrund eines Risikos.
Ist Ihnen nicht unwohl beim Autofahren? Ist ja auch nicht ganz ungefährlich.
Nein, auch das nicht. Vielleicht, weil ich wie die meisten Autofahrer das Gefühl habe, dass ich ein besonders guter Autofahrer bin und das Risiko kontrollieren kann.
Basejumpen? Oder sonstige Risikosportarten?
Ich kann mir nicht vorstellen, dass es mir besonders Freude machen würde, in den freien Fall zu springen. Ich sehe also gar keinen Grund, das über mich ergehen zu lassen (schmunzelt).
Interview: Regula Baumann