Als ich Barbara heiratete, war ich 28. Wir waren so verliebt und hatten so viele Pläne. Doch dann kam alles ganz anders und endete in einer Tragödie. Barbara wurde schwanger und verlor ihr Kind im vierten Schwangerschaftsmonat, plötzlich, unvermittelt, während der Arbeit. Barbara stürzte in ein tiefes Loch, sie zog sich zurück, verkroch sich. Sie trauerte und konnte es nicht glauben, dass ihr Kind nicht mehr war. Tagelang sass sie im bereits vorbereiteten Kinderzimmer und betrachtete die Spielsachen und Kleidli.
Alles war falsch
Ihre Schwester gab mir den Rat, sie im Auge zu behalten, sie aber in Ruhe zu lassen. Ich versuchte alles, um Barbara eine Stütze zu sein. Doch mit der Zeit begann ein seltsames Ritual: Liess ich sie alleine, meinte sie, ich kümmerte mich nicht um sie. Brachte ich ihr etwas zu essen, bekam ich zu hören, wie ich nur ans Essen denken könne. Ging ich zur Arbeit, hatte sie den Eindruck, ich liesse sie allein. Kurz, was immer ich tat oder eben bleiben liess, es war falsch. Es wird vorbei gehen, trösteten mich Familie und Freunde. Sie braucht Zeit.
Rückzug aus dem Leben
Doch irgendwie heilt die Zeit nicht immer alle Wunden. Barbara wurde mir zunehmend fremd. Ich erkannte meine einstige Partnerin nicht mehr. Ihr emotionaler Rückzug machte mir zunehmend zu schaffen. Ich ging arbeiten, ich kam nach Hause, besorgte das wenige im Haushalt, räumte auf, reinigte die Toiletten und kochte. Barbara arbeitete nicht mehr, sie hatte sich von ihrem einstigen Arbeitsumfeld komplett zurückgezogen, es kamen auch nur mehr selten Freundinnen zu Besuch. Auch ihre Mutter zeigte sich nur noch sporadisch.
Pfleg die Rituale
Sie liess niemanden mehr in ihre Nähe. Sie unternahm manchmal lange Spaziergänge, las viel in psychologischen Büchern und ich spürte, wie sehr sie versuchte, diesen Schmerz zu überwinden. Doch es war, als drehte sich alles nur im Kreis. Meinen Vorschlag, doch wieder eine Arbeit zu suchen, schmetterte sie wütend ab. Sie in den Arm zu nehmen war unmöglich, und die gemeinsamen Abende auf dem Balkon bei einem Glas Wein gehörten schon lange der Vergangenheit an. Ein Freund riet: Versuch die Rituale, die euch verbunden haben, wiederzubeleben, alleine. Gib ihr die Möglichkeit, sich dazuzugesellen, ohne Druck und Stress. Er muss es ja wissen, dachte ich, denn bevor er Lehrer wurde, hatte er ein paar Jahre Psychologie studiert.
Ich kam nach Hause, brachte manchmal einen Blumenstrauss mit, ich holte jeden Sonntag Brötchen, nur, um sie dann alleine zu essen. Ich begann auf dem Balkon Sonnenblumen zu ziehen, brachte Zeitungen und Magazine mit, damit sie zu lesen hatte, kochte und war da. Irgendwie aber bekam ich das Gefühl, dass all meine Aktivitäten und Bemühungen das Gegenteil in ihr auslösten. War ich da, schien ich zu stören. Irgendwie hatte ich das Gefühl, dass sie erst dann lebte, wenn ich wieder aus dem Haus war.
Der Fussabtreter unserer Beziehung
Ich begann mich nach vielen Monaten wieder vermehrt meinen Bedürfnissen zuzuwenden, blieb am Freitag bis 22 Uhr weg und besuchte mit Freunden das Pub, nahm mit Res wieder unsere wöchentlichen Squashpartien auf und ging wieder Skifahren. Barbara und ich redeten kaum mehr miteinander. Ich war es müde, auf all meine Fragen und Anregungen eine gehässige Bemerkung einzufangen.
Ich war es müde, den Fussabtreter unserer Beziehung zu sein. Ich war nicht schuld daran, dass Barbara unser Baby verloren hatte. Ich litt genauso, nur anders. Ich hatte mich doch ebenso auf unser Baby gefreut.
Ich wollte nur noch geniessen
Ich spürte, dass ich ihr Leiden nicht mehr ertragen konnte. Dieses Verharren am Punkt. Es bewegte sich nichts. Am zweiten Jahrestag unserer Tragödie entschloss ich mich zu verreisen. Ich bat Barbara mitzukommen. Ich wollte weg, raus aus der Wohnung, und fuhr mit dem Auto weg, einfach fort, und landete schliesslich in San Marino.
Barbara war selbstverständlich … nicht mitgefahren.
Ich entschloss mich, diese Zeit hier zu geniessen. Ich fand in dieser wunderschönen alten Stadt ein hübsches Hotelzimmer und war nun unterwegs. Ich hatte meine Kamera dabei und genoss die Tage mit Wanderungen und Fotografieren, abends ass ich mich durch die italienische Küche und genoss die lauen Frühlingsabende bei einem Glas Wein.
Mara
Ja, und da lernte ich sie kennen. Mara war mit ihren Freunden unterwegs, als Tramperin. Sie stammte aus Oslo und machte in San Marino Zwischenhalt. Sie waren bereits drei Wochen unterwegs und liessen sich noch einmal drei Wochen Zeit, dann wollten sie in Calabrien das Schiff besteigen und wieder nach Hause zurückfahren. Sie waren zu Fuss, mit dem Bus und dem Zug unterwegs.
Mir blieben nur mehr vier freie Tage, bis ich wieder an meinem Schreibtisch in der Firma zu sitzen hatte. Diese Tage aber genoss ich in vollen Zügen. Ich fuhr mit der Gruppe zum Schwimmen, wir grillten, diskutierten und ich kam Mara näher. Ich spürte, wie ich wieder zu leben begann, wie ein Panzer von mir abfiel. Diese vier Tage waren für mich Liebe, Wärme und Abenteuer.

Ich wollte wieder leben
Daheim empfand ich die Kühle noch schrecklicher. Ich spürte, dass sich nichts verändert hatte. Alles war wie immer, starr und kalt.
Ich begann zu reden. Ich redete mir den Schmerz vom Leib, ich war wütend, unendlich wütend, auf die Situation, auf Barbara und auch auf mich. Es konnte doch nicht sein, dass wir uns nun im Selbstmitleid zerfleischten. Ich gab ihr den Rat, ebenso zu verreisen, das Leben zu spüren und wieder mit neuer Energie heimzukommen. Unser Leben musste eine Zukunft haben, einen Sinn.
Sie hörte zu, sagte kaum etwas. Ich liess nicht locker. Ich wollte sie aus der Reserve holen. Ich spürte, dass mir weiterhin viel an ihr lag, aber durch die Liebe mit Mara spürte ich auch, dass ich unabhängig war. Ich fühlte mich sicher und frei. Und diese Situation wollte ich nutzen. Es war mir nun plötzlich auch egal, wenn ich was Falsches sagte oder machte. Ich wollte wieder leben können, mit Barbara, und wenn sie dies nicht mehr zuliess, dann auch ohne sie. Barbara reagierte kaum, einzig ein paar Tage später sagte sie ganz unvermittelt: «Du hattest was mit einer anderen Frau.» Kalt warf sie mir diesen Satz an den Kopf.
Ein Neubeginn
Und von diesem Zeitpunkt an wusste ich, was ich zu tun hatte. Ich musste gehen. Nicht zu Mara, aber weg aus diesem Daheim, das schon lange keines mehr war. Dreissig Monate, auf den Tag genau nach dem plötzlichen Tod unseres Babys, zog ich aus. Ich packte die Koffer und zog aus. Nahm mir ein kleines Zimmer, um mein Leben neu zu überdenken. Barbara nahm diesen Umstand ruhig, scheinbar emotionslos hin. Das tat mir weh, aber irgendwie hatte ich damit gerechnet. Erst sehr viel später erfuhr ich durch die Nachbarin, dass in dieser Nacht Gegenstände durch unser einstiges Daheim geflogen sein mussten, dass sie geschrien hatte. Als Ehemann und einziger Verdienender war ich vorderhand dazu verpflichtet, für die Wohnung und ihren Lebensunterhalt zu sorgen. Ich tat es, auch aus einem schlechten Gewissen heraus. Ich war gegangen und hatte sie sitzen gelassen, in ihrem Schmerz, der für mich längst nicht mehr immer nachvollziehbar war.
Abschied von meinem bisherigen Leben
Mein kleines Zimmer engte mich ein, doch bot es mir nun auch neue Freiheiten. Finanziell lebte ich schmal, emotional aber wachte ich wieder auf. Ich war wenig daheim und oft mit Freunden unterwegs.
Doch auf die Dauer war dies auch kein Leben. Von meinen fünf Freunden heirateten drei innerhalb eines halben Jahres. Klar sahen wir uns noch, doch sie hatten ihren Lebensmittelpunkt neu ausgerichtet. Und ich, ich begann mich irgendwie alleine zu fühlen. Leer und ausgebrannt. War es das? Ich hatte die dreissig längst überschritten, war immer noch in derselben Firma tätig wie damals bei der Heirat mit Barbara. Es tat sich wenig in meinem Leben.
Ausser, dass ich für Barbaras Lebensunterhalt aufkommen musste. Nach drei Jahren reichte ich die Scheidung ein und zog fort aus der Schweiz, nach Brasilien.
Nacherzählt von: Lotty Wohlwend