Robert aus Bern ist 73 Jahre alt, längst pensioniert und viel unterwegs. Zweimal in der Woche aber besucht er seine hochbetagte Mutter im Altersheim. Der Begriff «Weisch no …» löst bei ihm ganz spezielle Assoziationen aus. Es ist der Versuch, Abschied zu nehmen von
der Mutter und damit von der eigenen Kindheit.
Weisch no, wie du mir das Gesicht gewaschen hast, meine wilden Haare gekämmt und dann geholfen hast, in die Jacke zu schlüpfen?
Weisch no, als du Nachmittag für Nachmittag mit mir am Stubentisch gesessen bist und mit mir Grammatik eingeübt hast, weil ich so Schiss vor der Klausur hatte?
Weisch no, als ich während der Ausbildung auf dem Nachhauseweg mit dem Fahrrad stürzte und der Nachbar mich mit seinem Auto nach Hause brachte? Tagelang blieb ich liegen, erbrach mich und war ganz auf deine Fürsorge angewiesen. Weisch no?
Nein, du weisst es nicht mehr
Heut komme ich zweimal die Woche bei dir vorbei, streichle deine Hände und nehme dich raus auf den Balkon, wenn die Sonne warm scheint. Oder ich begleite dich mit dem Rollstuhl in die Cafeteria, wo du mit grossem Wohlgefallen den heissen Kaffee und dein Weggli geniesst. Ich sitze bei dir und schaue auf deine Hände. Immer noch sind mir deine Bewegungen vertraut. Ich schaue dir zu, wie du im Kaffee rührst und dein Weggli teilst, sorgfältig, Stück für Stück. Es sind dieselben Hände, die mir damals so viele Dienste erwiesen haben.
Ein Stück Kuchen, anstelle eines trockenen Weggli? Undenkbar! Wir haben nicht Geburtstag, sagst du dann, wir haben auch nicht Weihnachten. So warst du schon immer. Bescheiden und gütig. Ich habe aber auch eine andere Seite von dir kennengelernt, die mir Angst machte und mich verunsicherte. Als die Demenz begann, warst du 83 Jahre alt. Ich war dir sehr dankbar, dass du selber entschieden hast, nun in ein Altersheim zu ziehen. Dann begann eine für uns beide schwere Zeit. Die Krankheit veränderte dich so sehr, dass du bei jeder Kleinigkeit wütend geworden bist. Du wurdest mir gegenüber aggressiv und hast mich wegen Kleinigkeiten beschimpft. Und ich? Ich stand da und überlegte, was ich falsch gemacht hatte. Ich stand in deinem Zimmer vor dir am Tisch wie ein kleines Kind, wie dannzumal, und habe gewartet, was nun folgt. Aber es folgte nichts mehr, weil du es vergessen hast. Vergessen, dass du mich soeben «einen Löli» genannt hast. In dieser Zeit hörte ich Sätze, die ich niemals zuvor je von dir kannte. Ich war irritiert und irgendwie auch schockiert. War das noch meine Mutter? Immer wieder habe ich mich gefragt, was mache ich hier eigentlich noch? Und doch wollte ich dich nicht im Stich lassen. Und so kam ich zweimal die Woche nach der Arbeit kurz bei dir vorbei. Aber deine Wut, dein Ärger machten auch mich wütend. Erst als ein Arzt mir erklärte, dass Angst Wut auslösen kann, begann ich zu verstehen. Heute bin ich froh, dass ich durchgehalten habe. Das Fortschreiten der Demenz hat dir heute deine Aggressivität genommen. Du kennst mich schon längst nicht mehr, wenn ich komme, aber du freust dich, weil da «jemand» gekommen ist, der mit dir spricht und deine Hand streichelt.
«Weisch no, Mueter …»
So beginne ich manchmal zu erzählen, und ich erinnere mich an damals, als du jung warst und ich dein Kind. Und du hörst zu und freust dich, auch wenn du dich nicht mehr erinnern kannst, nicht einmal mehr weisst, dass ich von dir erzähle.
Ich habe gelernt, loszulassen von dir als meine Mutter von einst. Heute begleite ich eine liebenswerte Frau in ihrem hohen Alter. Ich besuche sie kurz für ein paar Minuten. Sie freut sich und ich weiss doch, dass sie meinen Besuch, kaum bin ich wieder draussen auf dem Flur, auch schon wieder vergessen hat. Mir aber tut dieser Gang zu dir heute noch gut. Ich sitze da und erinnere mich. Meine Mutter wird jetzt im Juni 97 Jahre alt.
Robert (Röbi)