Schon einmal haben wir uns im «active & live» mit dem Thema Illetrismus befasst, doch zwei Themen wurden vorerst nicht berücksichtigt. Wie wirkt sich dieser funktionale Analphabetismus im Alter aus? Und welche Auswirkungen hat die fortschreitende Digitalisierung? Und hängen diese beiden Aspekte zusammen?
Erinnern wir uns. Illetrismus ist eine Volkskrankheit. Die «Durchseuchung» ist enorm. Fast jeder sechste berufstätige Schweizer oder jede sechste Schweizerin ist davon betroffen. Oder anders ausgedrückt: In der Schweiz sind rund 16 Prozent der arbeitenden Bevölkerung oder umgerechnet 800 000 Menschen als Illetristen unterwegs.
Das Stichwort, das aufhorchen lässt, ist dasjenige der «arbeitenden Bevölkerung». Tatsächlich richten sich alle Studien und Untersuchungen – und damit auch die daraus abgeleiteten Zahlen – nach der Gruppe der Erwerbstätigen, also dem Zeitraum nach der obligatorischen Schulzeit bis zum Zeitpunkt der Rente. Selbstverständlich macht es wenig Sinn, bei einem Kleinkind oder einem Kindergärtler nach ersten Anzeichen von Illetrismus zu suchen (Pädagogen mögen jetzt vielleicht widersprechen), aber es würde durchaus Sinn machen, einmal bei den Seniorinnen und Senioren Daten zu erheben. Wie wirken sich Lese- und Schreibschwäche bei der älteren Bevölkerungsschicht aus? Und wie navigieren sich unsere älteren Mitbürgerinnen und Mitbürger durch das Zeitalter der Digitalisierung, das seine Runden immer schneller und schneller dreht und unablässig – einem gefrässigen Moloch gleich – immer neue Möglichkeiten und damit auch immer neue Herausforderungen zur Verfügung stellt, die es zu nutzen und gleichzeitig zu bewältigen gilt?
Bleiben wir vorerst bei der Frage, wie viele ältere Menschen von Illetrismus betroffen sind. Die Antwort ergibt sich aus den Studien, die bei der erwerbstätigen Bevölkerung durchgeführt wurden. Wenn es in dieser Gruppe bis zu 16 Prozent der Bevölkerung betrifft, so muss diese Zahl – der Statistik geschuldet notgedrungen – auch bei der Vergleichsgruppe der Älteren als minimale Grösse herangezogen werden. Allerdings kann der prozentuale Anteil durch altersbedingte Krankheiten wie Aufnahmedefizite bis hin zu Demenz weiter zunehmen, eine Abnahme ist hingegen unwahrscheinlich.
Keine Studien für Ältere
Spezifische Studien zu Illetrismus bei Älteren in der Schweiz gibt es nach Auskunft der Pro Senectute nicht, die Beratungen Älterer, welche mit ganz konkreten Fragen um Rat suchen, werden vielmehr ganzheitlich angegangen, so Judith Bucher, Medienbeauftragte von Pro Senectute Schweiz. So suchen jährlich über 40 000 Personen die Sozialberatung von Pro Senectute auf, zu Themen wie Finanzen, Wohnen, Gesundheit, um nur einige zu nennen. Auch unterhält Pro Senectute in vielen Kantonen einen Administrativ- und Treuhanddienst für Menschen, die mit der Administration und den Finanzen nicht mehr klarkommen und dabei Hilfe von Freiwilligen erhalten.
«In diesen Settings kann es durchaus Menschen geben, die von Illetrismus betroffen sind», so Judith Bucher, im Vordergrund aber stehe klar die Hilfestellung bei spezifischen Problemen. Es gebe daher auch keine speziellen Kurse gegen den funktionalen Analphabetismus, hingegen diverse Angebote, um die digitalen Herausforderungen zu bewältigen. Einsteigerkurse in W10 finden sich genauso wie Anleitungen, wie man auf Smartphone und Tablet Reisewege berechnet und gleich auch noch das dazu passende Billett lösen kann. Oder wie man auf dem PC Fotos bearbeitet und daraus etwa ein Fotobuch erstellen kann.
Womit sich unmittelbar die zweite Frage anschliesst. Ältere in der digitalen Welt. Wie kommen sie damit zurecht? Und dazu gibt es tatsächlich umfassende Untersuchungen wie die Studie «Digitale Senioren», die vom Zentrum der Gerontologie der Universität Zürich im Auftrag der Pro Senectute im Jahr 2015 erstellt wurde. Und die klar differenziert.

Soziodemografische Merkmale
So wurden mittels einer repräsentativen telefonischen und postalischen Erhebung in der gesamten Schweiz bei insgesamt 1037 älteren Personen ab 65 Jahren Informationen zu ihrer Person, ihrem Internetnutzungsverhalten und ihren Einstellungen zum Internet erhoben. 60 Prozent der befragten Personen gaben bei der Umfrage an, das Internet zu nutzen, 40 Prozent verneinten dies. Das bedeutet, so die Verfasser der Studie, zumindest einen starken Anstieg der Nutzer von 47 Prozent zur ersten Erhebung aus dem Jahr 2009. Weiter: «Die Onliner und die Offliner unterscheiden sich statistisch bedeutsam hinsichtlich folgender soziodemografischer Merkmale: Alter, Bildung, Einkommen und teilweise Geschlecht. Neben diesen Merkmalen ist es vor allem die eigene Technikbiografie, die Technikaffinität und der Computerbesitz, der die Internetnutzung bedingt. Darüber hinaus haben sich die empfundene Nützlichkeit, die positive Einstellung zum Internet und die empfundene Leichtigkeit der Internetnutzung als wichtige Erklärungsfaktoren herausgestellt. Demzufolge nutzt eine Person eher das Internet, wenn sie einen Nutzengewinn darin sieht, positiv dem ‹Neuen› gegenübersteht und die Nutzung geringe Hindernisse aufweist.»
Diese «soziodemografischen Merkmale» spielen also eine ganz entscheidende Rolle. Salopp formuliert: Je mehr Bildungshintergrund, desto mehr Internetnutzung. Kommt dazu, dass internetaffine Ältere auch mehrere Geräte benutzen, so neben dem klassischen PC / Laptop auch Tablets oder Smartphones. Dass das Alter ebenso eine entscheidende Rolle spielt, ist ebenfalls verständlich: Während – um einmal die jüngere Generation miteinzubeziehen – bei den bis 55-Jährigen die Nutzung des Internets durch das Band weit oder deutlich über 90 Prozent liegt und weiter bis gegen 100 Prozent zunehmen dürfte, so liegt die Rate bei den 65- bis 74-Jährigen bei guten 60 Prozent, bei den über 75-Jährigen fällt sie auf rund ein Drittel.
Um noch einmal auf den Faktor Bildungsstand – und damit zumindest indirekt auf Illetrismus – zurückzukommen, so lässt sich nicht zwingend behaupten, dass hier ein direkter Zusammenhang bestehen muss. Facebook, Instagram oder Twitter, Letzterer jener Nachrichtendienst, der sich durch wenig Volumeninhalt auszeichnet, können auch von Lese- und Schreibschwachen durchaus (mit)benutzt werden, und das Hochladen von Fotos beherrschen bereits Kleinkinder. Hier stellt sich eher die Frage, wie das Web sonst noch genutzt wird, Wikipedia dürfte den einen oder anderen Illetristen bereits auf eine harte Probe stellen.
Fakt ist, und das bestätigt auch Judith Bucher, dass sich interneterfahrene Ältere «sozial integrierter und sicherer fühlen und überzeugt sind, dank dem Internet länger selbständig bleiben zu können.» Offliner und technikferne Senioren würden andererseits zunehmend von Informationen und Dienstleistungen abgeschnitten.

Geistige Fitness
Zudem trägt eine – moderate – Internetnutzung auch zur geistigen Fitness bei, was gerade im Alter auch positive physische Auswirkungen mit sich bringt. Doch wie könnte sich der Trend in Zukunft entwickeln?
Der Blick in die Kristallkugel sei durchaus gestattet. Die Generation der Babyboomer umfasst die Altersklasse der zwischen 1955 und 1964 Geborenen, also jene geburtenstarken Jahrgänge vor dem sogenannten «Pillenknick». Diese sind jetzt im Alter, wo die ersten in Pension gehen und meistens fit sind, was die elektronischen Medien anbelangt, ganz egal, ob sie sich diese Fähigkeiten im Beruf oder im privaten Bereich angeeignet haben. Es lässt sich also unschwer prognostizieren, dass der Gebrauch eben dieser elektronischer Medien und der dazu passenden Gerätschaften auch in den höheren Altersklassen weiter zunimmt und die Prozentzahlen der aktiven User sich der jüngeren Generation angleichen werden. Skypen mit dem Enkel in Australien, ein kleiner Facebook-Chat mit der Tochter in London, das ist wohl heute schon Realität, dürfte jedoch zunehmend nachgefragt werden. Erst im hohen, allenfalls sehr hohen Alter dürfte die Nutzung wieder zurückgehen, wenn andere Prioritäten das Leben bestimmen werden und ein Ersatz allenfalls veralteter Geräte durch neuere – und damit das Erlernen auch neuer Technologien – in den Hintergrund tritt, weil es nicht mehr als zielgerichtet und «nützlich» betrachtet wird, wie dies in der Studie «Digitale Senioren» treffend dargestellt wurde. Fakt ist, der «digitale Illetrismus im Alter» wird nicht ganz verschwinden. Es bleibt durchaus anzunehmen, dass die digitale Spaltung der Generationen bestehen bleibt, zumal immer wieder neue Technologien entwickelt werden, aber sie wird durch die Auswechslung der Generationen im oberen Viertel der Alterspyramide deutlich abnehmen.
Roland Breitler