Diesen Sommer findet Lausanne Jardins das sechste Mal statt. Das Kunst- und Naturprojekt verbindet Stadtplanung mit Landschaftsarchitektur. Über zwanzig Begrünungen und Installationen werden über die ganze Stadt verteilt zu sehen sein – eine davon mitten auf einer viel befahrenen Kreuzung.
In einem tristen Hinterhof der Avenue Saint-Paul in Lausanne wächst auf dem grauen Betondach einer Garage ein zartes Bäumchen. Gleich daneben klebt an der nicht minder tristen Steinmauer ein riesiges schwarz-weisses Poster. Darauf ist ein Mädchen zu sehen, das mit beiden Händen eine Giesskanne andächtig hochhält und den einsamen Jungbaum zu giessen scheint. Der schlichte und poetische Stil sowie die klare und kräftige Aussage dieses Werks erinnern an die Schablonengraffitis des britischen Street-Art-Künstlers Banksy. Doch ist das gefühlvolle Bild namens «Place to live» an der Mauer ein Teil von Lausanne Jardins, einer öffentlichen Ausstellung, die vom 15. Juni bis 12. Oktober in ganz Lausanne verteilt zu sehen sein wird.

Den öffentlichen Raum begrünen
Dieser Kulturanlass findet in unregelmässigen Abständen alle drei bis fünf Jahre statt und verbindet Stadtplanung mit Landschaftsarchitektur. Lausanne Jardins versteht sich als avantgardistisches Versuchslabor für das urbane Leben von morgen. Die Veranstalter und die Teilnehmer wollen den öffentlichen Raum natürlicher gestalten. Das sei ein wesentlicher Faktor für die Attraktivität von Lausanne im Spezifischen und Städten im Allgemeinen und verbessere die Lebensqualität seiner Bewohner. Sie wollen mit ihrer temporären Ausstellung ungemütliche und verlassene Plätze im Stadtzentrum und in den Quartieren zeigen, die nicht als Orte der Begegnung funktionieren. Deshalb sollen sie mit zeitgenössischer und kreativer Gartenkunst neu gestaltet werden, um deren ästhetisches Potenzial zu entfalten und die soziale Nutzung zu verbessern, was letztlich die Qualität des Zusammenlebens fördert. Die vier Kilometer lange und rund um die Uhr kostenlos zugängliche Ausstellung beginnt im Parc de Valency in Prilly, quert die Stadt von West nach Ost der Buslinie 9 entlang und endet im Parc Guillemin in Pully. Jeder Standort erzählt etwas über den Boden, der sich laufend verändert – von Erde bis zur bodenfernen Kultur im Stadtzentrum.



Bodenständige Kunst
Das zentrale Konzept der Veranstaltung liegt darin, Lausanne dort zu begrünen, wo noch kein Grün wächst – in Parking-Anlagen und Passagen, in Strassen und Brachen, in Vorgärten und Hinterhöfen, auf Treppen und Trottoirs, auf Strassenkreuzungen und Dächern, an Häuserfassaden und Bushaltestellen. Für die vier Monate dauernde Ausstellung kreieren Landschaftsarchitekten, Gärtner, Designer und Künstler aus aller Welt verspielte Werke und Installationen an unauffälligen, unscheinbaren und teilweise undenkbaren Orten und Nischen der Stadt.
Das Motto der heuer 6. Ausgabe des mittlerweile traditionellen Kunst- und Naturprojekts, das sowohl in der Bevölkerung als auch in der Fachszene anerkannt ist, lautet «bodenständig». Dafür schöpfen die Teilnehmer einmal mehr aus dem reichhaltigen Fundus ihrer Fantasie: Sie dekorieren Bäume, Hauswände und Fussgängerpassagen, pflanzen grüne Inseln an Häuserecken, bestücken einen Park mit Spielzeugtieren, lassen Früchte und Gemüse wie einen riesigen Kronleuchter von einem Innenhof hängen und belegen ein Trottoir der Grand-Pont mit weichem Reliefteppich, der den Erdboden imitiert und die Menschen mitten in der Stadt wie über eine Wiese gehen lässt.
Wasserspiel auf der Verkehrskreuzung
Basis von Lausanne Jardins ist jeweils ein internationaler Wettbewerb. Dieses Jahr haben fast 136 Interessenten ihre Projektideen eingereicht. Aus ihnen hat die Jury 25 Teams aus Belgien, Deutschland, Frankreich, Holland, Italien, Kanada, der Schweiz und den USA ausgewählt, welche die Stadt mit Fantasie begrünen dürfen. Sie alle müssen sich zudem überlegen, wie es mit ihren Installationen nach der Ausstellung weitergehen soll: erhalten, umbauen oder abbauen.
Zu den Teilnehmern von Lausanne Jardins gehören Maria Vill, David Mannstein und Elam Hergeht aus Berlin mit ihrem hintersinnigen Wandposter «Place to live» und dem bäumchengiessenden Mädchen. «Pflanzen, die durch Ritzen betonierter Böden oder aus Steinwänden wachsen, zeugen von ihrer unbändigen Kraft und unendlichen Ausdauer – sowie von der Erde, die sich unter dem Beton und hinter dem Stein befindet», erklären die Initianten den Kern ihres Projekts.
Auch das Projekt «L’eau et vous» will die Natur in der Stadt sichtbar machen, allerdings nicht so still und feinfühlig, sondern auffällig und geradezu brachial. Die sechs Initianten aus Zürich wollen mitten auf der verkehrsreichen Strassenkreuzung, wo die fünfspurige Avenue Georgette und die vierspurige Avenue du Théatre aufeinandertreffen, ein Wasserspiel installieren. Getreu dem Grundsatz, dass Kunst im öffentlichen Raum stören müsse, um wahrgenommen zu werden, sollen neun quadratisch angeordnete Fontänen aus Löchern im Strassenasphalt meterhoch in die Höhe schiessen – auch während des Stossverkehrs. «Wir wollen dem Wasser, dieser Naturgewalt, die in Lausanne unterirdisch in Rohren eingeschlossen vom Ort der Reinigung zum Ort des Verbrauchs fliesst, sein Recht auf freies Fliessen zurückgeben», schreiben die Initianten über ihr aberwitziges Vorhaben.
Überraschen, erstaunen, zum Denken anregen
Diese beiden Projekte repräsentieren die Grundideen der Veranstaltung und das Motto der diesjährigen Lausanne Jardins perfekt: Zum einen betonierte Stadtflächen, die noch mit dem Erdreich in Kontakt sind, mit attraktiven Mikrolandschaften sichtbar machen. Zum andern lebensfeindliche Plätze der Stadt mit aussergewöhnlichen Kreationen und verrückten Ideen zum Manifest für mehr Natur in der Stadt machen. Laut den sechs Frauen und einem Mann des Organisationsteams will Lausanne Jardins die Augen der Passanten überraschen, die Betrachter erstaunen und sie zum Nachdenken über die Natur in der Stadt animieren. Die Ausstellung lädt Einheimische und Besucher ein, Lausanne neu zu entdecken. Denn auch in der dank unzähligen Parks, Gärten, Promenaden, Bäumen und Rabatten grünen Stadt am Genfersee verschwinden langsam immer mehr Naturzonen – vor allem im Stadtzentrum.
www.genferseegebiet.ch
www.lausannejardins.ch

