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Herzgeschichten

Alles für meinen Sohn Mike

Alles für meinen Sohn Mike

Zuletzt stirbt die Hoffnung…, doch manchmal hält man sich auch an etwas fest und muss später erkennen, dass das erste Bauchgefühl richtig war: «Hätte ich doch Nein gesagt.» Doch einfach gehen und Tschüss sagen, war nie meine Devise.

Im Lehrerseminar trafen wir uns, ich war Schülerin, er Lehrer. Ich war 26 Jahre alt, er 35 und unverheiratet. Es war keine Liebe auf den ersten Blick, auch unsere erste Zeit würde ich nicht als eine Phase der emotionalen Hochs beschreiben. Irgendwann trafen wir uns im selben Café und kamen ins Gespräch.

Nach der Ausbildung wechselte ich Schule und Wohnort, unser Kontakt aber blieb. So ganz wie selbstverständlich. Irgendwann dann wurde ich schwanger, da war er bereits 39 Jahre alt. Wir freuten uns riesig. Dem ungeborenen Kind zuliebe entschlossen wir uns nun, zusammenzuziehen. Peter hatte bereits ein Haus, er wohnte in einem alten Bauernhaus ganz alleine. Beim Einzug fiel mir auf, wie wenig ich doch von ihm wusste. Es gab Räume im Haus, die hatte ich noch nie gesehen. Nun sah ich, wie vollgepfercht diese Zimmer waren. Da gab es alte Möbel, viele Bücher und Unmengen von CDs, Filmen, Musikkassetten und anderen Gegenständen. Es sah aus wie in einer Brockenstube, nur nicht so aufgeräumt.

«Mein» oder sein Daheim

Irritiert zog ich ein. Ich hatte irgendwie keinen Platz, und an dem Tag, an dem ich mit dem Möbelwagen vorfuhr, gab es ausser dem angebauten Schuppen auch keine anderen Einstellflächen. Er sei nicht dazu gekommen, entschuldigte er sich, er stecke mit seinen Schülern mitten in den Abschlussprüfungen, das sei jedes Mal sehr zeitraubend. Mike wurde geboren und hatte zu diesem Zeitpunkt kein eigenes Zimmer. Ich war mit meinem Bauch gar nicht mehr in der Lage, eines dieser zugemüllten Zimmer frei zu machen.

Als Mike ein halbes Jahr alt wurde und aus dem Stubenwagen in sein eigenes Bett ziehen sollte, half mir Peter endlich. Gemeinsam räumten wir das Schlafzimmer neben uns frei. Da gab es noch viele Dinge von seinen erst im hohen Alter verstorbenen Grosseltern – den einstigen Besitzern dieses Hauses –, Erinnerungen, aber auch Möbel und sogar Kleider. Alles landete in den übrigen Zimmern, so gut es irgendwie ging. Dann begann ich mit grosser Freude, das Haus umzustellen. Die Stube wurde neu eingerichtet, Vorhänge kamen an die Fenster, der Garten wurde gejätet und der Vorplatz in Ordnung gebracht. Wir kriegen das hin, fand ich.

Ich lebe auch da

Peter ging zur Arbeit und ich blieb die ersten Jahre daheim, hatte also Zeit für Haus und Hof. Nur in den Schuppen hatte ich mich nicht zu wagen. Hier standen sein alter Ferienbus sowie zwei weitere Autos, die schon gar nicht mehr fahrtüchtig waren. Als ich die Küche neu einrichtete, die Schränke ausmistete und vieles davon entsorgte – welche dreiköpfige Familie benötigt über 30 Suppenteller, und diese erst noch in vier verschiedenen Mustern –, gab es erstmals Stress. Er fand es unerhört, dass ich in seinen Sachen wühlte. «Peter, ich lebe auch da. Ich muss doch die Küche so gestalten, dass darin gelebt und vor allem gekocht werden kann», fand ich. Er schwenkte ein, wenn auch mit Widerständen, Diskussionen und seinem lehrerhaften Kontrollblick.

Zum Anbeissen schön

Hätte ich dannzumal gewusst, wie unmöglich es war, in die anderen Räume vorzudringen, wäre ich wohl gleich ausgezogen. So aber blieb ich, allen Diskussionen zum Trotz, mit der Gewissheit, dass er irgendwann merken würde, dass es zum Wohle aller war.

Draussen blühte der Garten, an den Fenstern hingen Geranien, der Sitzplatz unter den Linden war gemütlich und lud zum Verweilen ein. Auch die Fensterläden des Hauses hatte ich mithilfe meiner Schwester allesamt abgelaugt und frisch gestrichen. Nun sah das Haus zum Anbeissen schön aus und ich begann, mich langsam, aber sicher wohlzufühlen. Auch in der Stube durfte ich noch die eine oder andere Änderung anbringen. Das wars.

Keine «Gwundernasen» erwünscht

Eines Nachmittags, Peter kam von der Arbeit, sassen eine Nachbarin und ich in der Küche und tranken Kaffee. Im Keller standen über dreissig Flaschen mit eingemachtem Lindenblütensirup. Wir würden die Flaschen am Herbstmarkt verkaufen. Peter setzte sich an den Tisch, und es wurde sofort so ungemütlich, dass sich die Nachbarin rasch verabschiedete. Es war offensichtlich, dass sie für ihn ein Eindringling war. Als sie draussen war, ging ein Donnerwetter los. Er fand es «unter jeder Sau», dass ich Tage der offenen Türe mache und alle ihre «Gwundernasen» in sein Haus stecken konnten. Die hätten gefälligst draussen zu bleiben, es genüge, wenn meine Schwester schon alle paar Wochen hier aufkreuze. Wie Schuppen fiel es mir von den Augen: Peter hatte nie Besuch, nicht einmal von seinen Eltern. Wir tauchten ab und zu bei ihnen auf.

Von da an wusste ich: Peter würde sich nicht mehr verändern. Der Alltag war streng mit ihm und er wich kein Quäntchen von seiner Einstellung ab. Wie würde das werden, wenn Mike seine ersten Kameraden mit nach Hause bringen würde? Vielleicht war ich etwas zu lieb, vielleicht war ich auch etwas naiv, auf jeden Fall glaubte ich lange an ihn.

Sooo klein

Als ich an der Schule des Nachbardorfs erste Lektionen annahm und langsam wieder in den beruflichen Alltag zurückkehrte, hatte ich riesigen Stress. Wo war der emanzipierte Lehrer, der vorne an der Tafel von der Gleichberechtigung der Frau im Beruf erzählte? Hier spürte ich nichts anderes mehr als Enge und Stress. Er war auch eifersüchtig. War ich ausser Haus und er wusste nicht, wo ich war, war er am Abend gereizt oder sprach tagelang nicht mehr mit mir. Die Situation verschlimmerte sich mit den Jahren, seine verbalen Exzesse nahmen zu. Zwar hatte er mich nie geschlagen, doch wenn er loslegte, dann war ich im Anschluss sooo klein, und Mike zog sich verängstigt ins Zimmer zurück.

Eine Beziehung auf Distanz

Irgendwann wagte ich den Schritt und zog aus. Was für eine Schmach. Ich hatte aufgegeben. Es waren schwierige Zeiten, ich wohnte nun im Nachbardorf, da, wo ich meine Anstellung hatte. Peter stand jede Woche vor der Tür und kam rein, mal wollte er reden, dann wieder sass er in der Stube und schaute fern. Manchmal nahm er auch Mike mit und ging mit ihm zu den Enten. Ich liess es zu, wollte dem Sohn den Vater nicht wegnehmen. War darauf bedacht, ein gutes Verhältnis zu halten.

Peter kam und ging, wann er wollte. Ich war ausgezogen, und er kam einfach mit. Auch zu den Besuchen bei meinen Eltern kam er manchmal mit. Sie fanden es toll, dass wir einen Weg gefunden hatten. Ich aber spürte, dass ich weiterhin nicht frei war. Er weigerte sich, für das Kind Alimente zu bezahlen, er würde die Krankenkassenrechnungen übernehmen. Um des Friedens willen willigte ich ein. Glaubte an eine Beziehung auf Distanz.

Von allem etwas weniger

Dabei hätte ich wissen müssen, dass ich ihn nicht mehr umkrempeln konnte. Allein als ich ein Jahr später ein paar Gegenstände, die noch in seinem Keller gelagert waren, abholen ging, fiel mir auf, wie das Haus wieder in den «Urzustand» zurückgefallen war. Alle Vorhänge waren weg, der Sitzplatz im Garten zugewachsen, Stube und Küche voller Gegenstände. Warum bleibst du bei ihm? Warum lässt du zu, dass dieser freundliche, allseits beliebte Lehrer dein Leben so beschneidet und durch seine verbalen Ausraster so massgeblich dominiert? Es war mir unwohl, wenn er in meine Wohnung kam, auch wenn er sich mit Mike abgab.

Ständig brachte er etwas mit. Klar war ich dankbar, als er eines Tages einen Computer mit ins Haus brachte und ihn installierte. Nun konnte ich noch besser von daheim aus arbeiten und die Stunden in der Schule reduzieren, bis ich dann irgendwann merkte, dass er mich und meine E-Mails sehr genau unter Kontrolle hatte. Er sah meine Ausgaben, meine Kontakte. Er brachte Mike irgendwann ein Fahrrad mit, dann wieder eine Playstation, stundenlang spielten sie zusammen, bis er plötzlich aufstand und ging. Alles kam so unvermittelt. Seine vielen Geschenke, aber auch seine heftigen Emotionen. Von allem weniger wäre mir lieb gewesen. «Trenn dich», sagten meine Freundinnen. «Er hat dich immer noch im Griff. Er dominiert nun auch dein neues Daheim.» Sie hatten recht. Ich war ihm auch finanziell ausgeliefert. Die paar Lektionen, die ich nebst Mikes Kindergartenzeit in der Schule machen konnte, reichten kaum zum Überleben.

Noch plagte mich das Gewissen, ich wollte Mike seinen Vater nicht wegnehmen. Es gab ja auch die guten Stunden.

Zehn Jahre später

Unser Kind lebte in einer Pflegefamilie. Der hochsensible und sehr gute Schüler brach in der 6. Klasse ein. Es begann mit Mobbing. Man fand, er sei ein «Hösi», ein Angsthase und Weichei. Er litt unsäglich. Bereits auf dem Schulweg fingen sie ihn ab. Es dauerte ein Jahr, dann endlich konnte ich Mike aus der Klasse nehmen. Im Nachbardorf blühte er auf. Zwar war der Schulweg nun bedeutend länger und er musste von mir jeden Morgen mit dem Auto gebracht werden, aber es schien ihm gut zu gehen. Bis er dann wie aus dem Nichts einbrach, die Schule verweigerte und morgens nicht mehr aus dem Bett kam. Vier Jahre kämpfte ich um ihn. Seine soziale Phobie wurde immer schlimmer, er begann mit seinen «Freunden» im Ausgang Alkohol zu trinken und zu kiffen.

Ein Feigling

Nun stand er wieder da, sein Vater. Er setzte massiven Druck auf. Das ginge gar nicht, dass der Sohn eines Lehrers die Schule verweigere. Mike schwieg und gehorchte. Doch war Peter ausser Haus, ging gar nichts mehr. Mike wurde mir gegenüber verbal angriffig, schloss sich ins Zimmer ein und liess oft tagelang niemanden mehr rein. Irgendwann kapitulierte ich, vor allem als meine Schwester begann, Druck anzusetzen. «Wenn du es nicht schaffst, dich aus den Fängen von Peter zu lösen, dann lass nicht zu, dass er dein Kind weiterhin manipuliert», redete sie mir ins Gewissen. Immer wieder stand Peter einfach da, setzte sich in die Stube und schaute fern. Manchmal nahm er auch den Rasenmäher und ging mir zur Hand, um dann bei einer Diskussion, die ihm überhaupt nicht behagte, einfach aufzustehen und zu gehen. Mike war für ihn ein Weichei. Ein Feigling.

«Ganz dä Pappe»

Ich hatte in den letzten Jahren versucht, mein Pensum zu erhöhen. Dieses jahrelange Leben am Existenzminimum, dieses Leben als Bittstellerin, war auf die Dauer unerträglich. Doch je mehr ich arbeitete, umso mehr verlor ich mein Kind. Ich war nicht mehr da, wenn es mich brauchte. Als es uns finanziell besser ging, zogen wir in ein kleines Zweifamilienhaus um. Der Garten, unser Hund, die schön eingerichtete Wohnung lebten eine heile Welt vor, die Mike und ich jedoch in unseren Herzen schon längst verloren hatten. Ich glaubte an das Gute, bis ich merkte, dass wir uns im Kreis drehten.

Ich kämpfte für mein Kind und kapitulierte dennoch, spätestens dann, als ich spürte, dass mein Sohn in seinem ganzen Wesen mehr und mehr wie Peter wurde. Mike glich Peter nicht nur äusserlich, er wurde auch von seinem Charakter her immer mehr «ganz dä Pappe».

Hoffnung auf bessere Zeiten

Der Umzug in eine Pflegefamilie während seines ersten Gymijahres war vielleicht mein schlimmster, aber auch bester Entscheid. Ich «verlor» meinen Sohn unter der Woche, konnte ihn aber zugleich auch aus den Fängen seines Vaters befreien. Peter besuchte Mike kein einziges Mal bei «dieser» Familie. So kam Mike wieder etwas zur Ruhe und hatte so etwas wie eine «normale» Familie mit vier jüngeren Geschwistern. Vor allem hatten die verbalen Entgleisungen von Mike mir gegenüber etwas abgenommen. Er war nicht mehr ganz so launisch und grenzüberschreitend. Irgendwie freute mich dies und ich hatte Hoffnung, dass doch noch alles gut kommt. Auf der anderen Seite fühlte ich mich auch als Versagerin. Ich hatte nur ein einziges Kind und war doch nicht in der Lage, diesem jungen Menschen eine gute, geborgene Kindheit zu geben.

Meine Beziehung zu Peter ist seither kaum noch vorhanden. Er hat sich zurückgezogen. Einzig an den Feiertagen erinnert er sich an uns und steht da, unvermittelt und unangemeldet wie immer, und zumeist dann auch unerwünscht. Aber das interessiert ihn nicht. Er ist dann da, und gut ist. Zumeist enden diese Feiern, die dann immer unter einer unausgesprochenen Spannung stehen, in Ruhe. Irgendwann, wenn er nicht auf der Couch einschläft, steht er unvermittelt auf und geht. Manchmal schaue ich ihm nach. Er war einmal der Mann, den ich liebte. Seit 20 Jahren nun leben wir neben und irgendwie auch miteinander. Schaue ich ihm nach, dann weiss ich, dass ich ihn irgendwie doch nie ganz werde loslassen können.

Nacherzählt von Lotty Wohlwend

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