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Herzgeschichten

Krimi: In letzter Sekunde

Krimi: In letzter Sekunde

Mit hochrotem Gesicht rannte Kriminalpolizist Max Schmid durch das Kriminalamt. Vor zwanzig Minuten hatte das Morgenmeeting begonnen und er sah die wutverzerrte Miene seines Chefs bereits vor sich, als er keuchend auf den Konferenzraum zuhetzte. «Schmid, in mein Büro, sofort», grollte die Stimme seines Chefs hinter ihm. Max fuhr zusammen, drehte sich um und erblickte seinen Boss am Ende des Flurs. «Mit meinem Wecker stimmt etwas nicht, er…», begann er, was weder der Wahrheit entsprach noch gehört werden wollte. «Sparen Sie sich das», schnitt ihm Kohler das Wort ab. Ich muss damit aufhören, dachte Max, während er sich zu erinnern versuchte, wie viele Tabletten er letzte Nacht geschluckt hatte. Kohler liess ihm den Vortritt und schloss hinter sich die Tür. «Heute Morgen wurde eine junge Frau ermordet aufgefunden. Ich will, dass Sie sich der Sache sofort annehmen», sagte Kohler. Max nickte und wollte sich schon davonstehlen, als sein Chef erneut das Wort ergriff. «Und noch etwas, Schmid», begann Kohler. «Sie kommen ständig zu spät und sind unkonzentriert. Was Ihnen zugestossen ist, tut mir aufrichtig leid. Aber seither sind zwei Jahre vergangen, es wird Zeit, damit abzuschliessen.» Max wich Kohlers bohrendem Blick aus. «So kann es nicht weitergehen, haben Sie mal einen Blick in den Spiegel geworfen? Sie sehen aus wie ein Gespenst!» Max hielt den Blick gesenkt und fummelte an seinem Hemdsärmel herum. «Wenn das so weitergeht, muss ich Sie vom Dienst suspendieren. Habe ich mich klar ausgedrückt?», wollte Kohler wissen. Zwei Jahre…, dachte Max und spürte einen Kloss im Hals. «Ja», würgte er hervor und war froh, als ihn sein Chef mit einer wirschen Handbewegung zum Gehen aufforderte. Wenig später fand er sich in der Gerichtsmedizin wieder, wo er auf die Leiche einer jungen Frau starrte. Unwillkürlich legte sich seine Hand um die Pillendose in seiner Jackentasche. Er wusste, dass er sie wegwerfen sollte, wie auch die unzähligen Dosen, die seinen Badezimmerschrank füllten, doch er brachte es nicht über sich. Sie waren das Einzige, das die langen Nächte und einsamen Stunden erträglich machten. Max schüttelte die Gedanken ab und lenkte seine Aufmerksamkeit wieder der Toten auf dem Edelstahltisch zu. Aus ihrer Akte ging hervor, dass sie Elena Widmer hiess, sechsundzwanzig war und im Rotlichtmilieu gearbeitet hatte. Ihre Identität war Dank einer vollen Strafakte schnell geklärt, nachdem man ihre Fingerabdrücke in die Datenbank eingelesen hatte. Ihr Haar war kurz und blond und in ihrer Nase funkelte ein Silberring. Die Todesursache waren offensichtlich zwei Messerstiche in die Brust. Max blickte auf die Stiche, die direkt über dem Herzen platziert worden waren und ein perfektes X bildeten. «Die Stiche sind jeweils 14 Zentimeter tief. Die Klinge wurde bis zum Anschlag in ihre Brust gerammt, daher vermute ich, dass der Täter ein Mann war», sagte der Pathologe. Max kratzte sich an der Schläfe und fragte: «Was hat das X zu bedeuten?» Der Pathologe meinte nachdenklich: «Es erinnert an ein Andreaskreuz.» Als Max wieder an der frischen Luft stand, zog er die Pillendose mit zittrigen Fingern aus seiner Jackentasche und schluckte zwei davon. Er atmete erleichtert aus, weil er sich einbildete, die Wirkung des Beruhigungsmittels bereits zu spüren. Zuletzt hatte Elena für einen Zuhälter namens Dominic Graf an der Langstrasse gearbeitet. Max beschloss, dort mit den Ermittlungen anzufangen. Auf dem Weg ging ihm das X in der Brust der Toten nicht mehr aus dem Kopf. Was zum Teufel sollte das bedeuten? Der Pathologe hatte von einem Andreaskreuz geredet. Oder war es lediglich ein Zufall, dass die beiden Stiche sich überkreuzten? Nein, dafür war das X zu perfekt. Max rieb sich die Stirn, in der Hoffnung, der Nebel in seinem Kopf würde sich ein wenig lichten. Dreissig Minuten später parkte er seinen Wagen vor einer Bar namens Red Light. Einfallsloser geht es kaum, dachte er, als er das Lokal betrat. Bis auf einen gelangweilten Barkeeper war die Bar leer. «Ich würde gerne den Geschäftsführer sprechen», sagte Max und hielt dem Barmann seinen Dienstausweis unter die Nase. «Hinten im Büro», gab der Mann genauso gelangweilt zurück, wie er aussah.

Max lief durch einen schummrig beleuchteten Flur und klopfte mit der Faust an eine Tür, auf der «Staff Only» stand. Er trat ein, ohne auf eine Antwort zu warten. Graf war ein kräftiger Kerl mit unzähligen Tätowierungen. «Max Schmid, Kriminalpolizei», stellte er sich vor. «Es geht um eines Ihrer Mädchen.» «Was für n` Mädchen?», fragte Graf unbeteiligt.  «Vergeuden Sie nicht meine Zeit. Elena Widmer wurde heute früh tot aufgefunden. Ich würde gerne wissen, wann Sie sie zuletzt gesehen haben», erwiderte Max kühl. Diese Nachricht erwischte Graf kalt und er konnte den Schock nicht verbergen, der ihn traf. «Elena ist tot?», stammelte er. «Wissen Sie, wer das getan haben könnte? Vielleicht einer Ihrer Kunden?», fragte Max weiter. «Meine Kunden sind sauber», entgegnete Graf sofort. «Ich muss wissen, mit wem sich Elena zuletzt getroffen hat.» «Sie hatte gestern ihren freien Tag. Ich glaube, sie wollte ihren Bruder treffen.» «Wie heisst ihr Bruder?», hakte Max nach. «Keine Ahnung, tut mir leid.» Kurz darauf trat Max wieder aus dem versifften Lokal ans Tageslicht. Als Nächstes wollte er die Wohnung des Opfers aufsuchen. Glücklicherweise lag sie ganz in der Nähe. Er liess seinen Wagen stehen und ging die zehn Minuten zu Fuss. Er klingelte bei einem Nachbarn, erklärte wer er war und wurde eingelassen. Vor der Wohnungstür von Elena sah er sich kurz verstohlen um, bevor er nach der Türfalle griff und sie probehalber nach unten drückte. Zu seinem Erstaunen schwang die Tür dabei auf. «Hallo? Polizei!», rief er und trat ein. Auf den ersten Blick wirkte die Wohnung wie die einer normalen jungen Frau. Nichts deutete auf ihren Job oder ihre kleinkriminelle Karriere hin. Als Max das Wohnzimmer erreichte, blieb er wie angewurzelt im Türrahmen stehen. Er spürte, wie sein Mund trocken wurde, während er die weisse Wand anstarrte. Nur war sie nicht mehr weiss, sondern mit unzähligen roten Kreuzen bemalt. «Was zum…» murmelte er und ging wie in Trance auf die vollgekritzelte Wand zu. Dabei trat er auf etwas, das leise unter seinen Füssen knisterte. Max bückte sich und hob das Foto auf, das auf dem Boden lag. Es zeigte Elena mit einem Mann, der etwa im selben Alter zu sein schien. Beide lächelten in die Kamera, die Ähnlichkeit war unverkennbar. Der Mann auf dem Foto musste ihr Bruder sein. Ein goldener Kreuzanhänger sprang Max ins Auge, welcher der junge Mann um den Hals trug.

Andreaskreuz…, Christentum…, dachte Max und hob den Blick wieder, um erneut die roten Kreuze zu studieren. Sie waren mit einer solchen Wucht gemalt worden, dass teilweise der Verputz von der Wand gebröckelt war. Irgendwie sagte ihm sein Bauchgefühl, dass dies nicht Elenas Werk war. Er beschloss, den Bruder ausfindig zu machen. Zurück im Büro machte er sich sofort an die Recherche und nach knapp zwei Stunden fand er, was er suchte. Fabian Widmer teilte auf seinem Facebookprofil nicht nur seine streng gläubige Ansichten mit, sondern auch, was er von Prostitution, Gewalt und Hass hielt. Das X in Elenas Brust könnte für Schande stehen, sinnierte Max, während er sich durch die Inhalte des Profils klickte. Plötzlich erschien ein neuer Beitrag auf der Seite. Es handelte sich um ein Foto von einem Airbus am Flughafen Zürich. Darunter stand: «Auf dem Weg nach New York.» Max starrte das Foto ein paar Sekunden an, bis er realisierte, was er da sah. Mit einem Satz sprang er auf. Scheisse, dachte er und rannte mit dem Handy am Ohr in Richtung Ausgang. Er musste den Flug aufhalten, auch wenn die Chancen schlecht standen. Am Flughafen herrschte ein so grosser Menschenauflauf, dass Max das Gefühl hatte, das gesamte Universum habe sich gegen ihn verschworen. Er drängte sich durch die Menschenmenge, um den Standort zu erreichen, den er mit der Flughafenpolizei vereinbart hatte. Dann ging alles ganz schnell. Er wurde durch alle Sicherheitszonen gelotst und fand sich kurz darauf auf den Gates wieder. Sein Blick flackerte über die Anzeigetafel. Der Flug nach New York ging ab Gate A62, und entsetzt stellte er fest, dass das Boarding bereits abgeschlossen war. Max rannte los. Beinahe prallte er mit einer alten Dame zusammen, die ihm den Weg abschnitt. Er streifte sie am Arm, worauf sie ihm eine Beschimpfung hinterherrief. Doch Max hörte sie gar nicht, er musste das Gate A62 erreichen. Schlitternd kam er vor der Boardingpass-Kontrolle zum Stehen und fuchtelte mit seinem Dienstausweis durch die Luft. Die Dame an der Eingangskontrolle schaute ihn mit hochgezogenen Augenbrauen an. «Ich muss in diesen Flieger, sofort», keuchte Max. «Das geht nicht, das Flugzeug verlässt gleich das Gate», erwiderte sie kühl. Gehetzt warf er einen Blick nach draussen auf den grossen Airbus, der tatsächlich dabei war, jeden Moment loszurollen. Da er den Kerl auf keinen Fall entkommen lassen wollte, sprang er mit einem Satz über die Sicherheitsschleuse und rannte dann mit klopfendem Herzen durch die leere Gangway, die unter seinen Schritten erzitterte. Ein Flughafenmitarbeiter wollte gerade die Tür des Flugzeuges schliessen, als Max um die Ecke bog. «Stopp!», rief er, drängte sich an dem Mann vorbei und stolperte ins Flugzeug hinein. Die Crewmitglieder schauten ihn erschreckt an, ebenso die Passagiere der Businessclass. Max zeigte einer Stewardess seinen Dienstausweis und stürmte dann durch den linken Mittelgang nach hinten. Sein Blick schweifte unablässig über die vielen Gesichter in der Hoffnung, er würde das von Fabian Widmer irgendwo sehen. Gleichzeitig durchlief ihn Panik, weil er sich vor zwei Jahren geschworen hatte, nie wieder ein fliegendes Objekt zu betreten. Und jetzt stand er mitten in dem engen Flur, über sich die niedrige Decke, die näher zu kommen schien und links und rechts Sitzreihen, die ihn einengten. Er versuchte, seine Angst zu ignorieren und bewegte sich weiter nach hinten durch das Flugzeug. Dann sah er ihn plötzlich. Widmer sass ganz gelassen in einer mittleren Reihe und döste vor sich hin. Das Kreuz um seinen Hals reflektierte das Deckenlicht. Max scheuchte die beiden Passagiere links von Widmer auf und fasste den Mann an der Schulter. «Fabian Widmer?», fragte er laut. Der Mann zuckte zusammen und sah abwechselnd ihn und seinen Dienstausweis an. «Es ist vorbei, kommen Sie bitte mit», sagte Max. Widmer wurde schlagartig bleich. «Ich…», begann er, zögerte, und dann brach es aus ihm heraus. «Sie liess mir keine Wahl, ich habe ihr immer wieder gesagt, sie soll damit aufhören», schluchzte er. «Sparen Sie sich das für Ihren Anwalt», erwiderte Max, während er den Mann auf den Flur zog und aus dem Flugzeug herausschleifte, wo er ihn zwei Polizisten übergab, die bereits am Ende des Gangway warteten. Max sah ihnen nach, bis sie in der Menge verschwunden waren und drehte sich dann zu dem grossen Fenster um, wo sich das Flugzeug bereits auf den Weg zur Startbahn machte. In Gedanken versunken, blieb er stehen. Er hatte seiner Frau zum Geburtstag einen Helikopterflug geschenkt. Eigentlich wollten sie beide fliegen, doch wenige Stunden zuvor rief man ihn zurück ins Büro. Also stieg seine Frau kurzfristig mit einer Freundin in den Helikopter. Sie kehrte nie wieder zurück. Der Helikopter stürzte bei einem plötzlichen Unwetter über den Alpen ab. Seit diesem Tag quälten ihn Albträume, Gewissensbisse und Schuldgefühle. Mit schweissnasser Hand umklammerte er die Pillendose in seiner Jackentasche und blickte dem Flugzeug nach, das in den orangeroten Himmel abhob. Er wendete sich von dem grossen Fenster ab und nahm sich vor, heute ohne Schlaftabletten ins Bett zu gehen.

Isabelle Bind

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