Wollen wir optimieren, müssen wir ständig daran arbeiten, Verbesserungen durchzuführen, und bei Gelegenheit sofort die Weichen umstellen: den besseren Job ergattern, die schönere Wohnung beziehen, die spannendere Reise wählen, effizienteren Sport ausüben, den passenderen Partner auswählen etc. Jedoch macht uns die grosse Wahlfreiheit auch unglücklicher, wie der Psychologe Barry Schwartz in seinem Buch «The Paradox of Choice» beschreibt. Denn wer einen Entscheid getroffen hat, wird danach oft von Zweifeln geplagt, bedauert verpasste Möglichkeiten, und die Freude über eine getroffene Entscheidung ist dahin. Während wir früher durch Gebote gelenkt worden seien, die von der Familie, der Religion, der Kultur auferlegt waren, so müssten wir heute gemäss Schwartz für jeden Entscheid selber geradestehen, was eine grosse Belastung darstellen könne. Die Ideologie unserer Zeit, stets den Anspruch auf das Beste haben zu müssen – den besten Partner, den besten Job, das beste Leben – führe dazu, dass gerade junge Menschen schlecht mit Entscheidungen umgehen könnten.
«Hätte, hätte, Fahrradkette …»
Menschen denken nicht nur über real eingetretene Ereignisse nach, sondern auch über Alternativen und darüber, warum diese nicht eingetreten sind. Sogenanntes kontrafaktisches Denken und daraus folgende kontrafaktische Annahmen beziehen sich auf Begebenheiten, die sich möglicherweise in der Vergangenheit ereignet hätten oder hätten ereignen können, wenn andere Begebenheiten stattgefunden – oder eben nicht stattgefunden – hätten. Das Durchspielen fiktiver Szenarien kann bei Menschen Erleichterung zur Folge haben, beispielsweise wenn jemand nur knapp einem Unglück entgangen ist; es kann aber ebenso Reue über getroffene Entscheidungen auslösen. Solche Grübeleien darüber, was hätte sein können, können zu einer grossen Belastung werden. Es kann heilsam sein, sich vor Augen zu führen, dass man weder wissen kann, wie sich die Dinge entwickelt hätten, wenn man anders gehandelt hätte, noch wie sie sich nach der Entscheidung in Zukunft entwickeln werden. Es bleibt deshalb immer eine Illusion zu glauben, dass es die einzig richtige Entscheidung gäbe. Angenommen, jemand wechselt den Job, weil die neue Firma so gute Arbeitsbedingungen bietet. Kurz darauf wird in dieser Firma umstrukturiert, die Arbeitsbedingungen ändern sich, und mit der neuen Vorgesetzten versteht man sich auch nicht. Das war natürlich nicht vorherzusehen. Die Entscheidung, die Stelle zu wechseln, war deswegen nicht falsch, birgt doch letztendlich jede Entscheidung ein Risiko.
Reue am Ende des Lebens
Die australische Palliativkrankenpflegerin Bronnie Ware hat in ihrem Bestseller «The Top Five Regrets of the Dying» die Aussagen von Sterbenden gesammelt und die häufigsten Reuen zusammengefasst. An erster Stelle nannte sie die Reue der Patienten, nicht das Leben gelebt zu haben, das sie sich selber erträumt hatten, da sie die Erwartungen der anderen erfüllt statt sich an den eigenen Zielen orientiert hätten. Am zweithäufigsten war das Bedauern der Kranken, zu viel gearbeitet zu haben. Drittens wünschten sich die Patienten, sie hätten den Mut gehabt, ihre Gefühle auszudrücken, und viertens: «Ich wünschte, ich hätte den Kontakt zu Freunden gehalten.» Als Fünftes galt das Bedauern der Erkenntnis darüber, dass man hätte glücklicher sein können, wenn man es sich nur zugestanden hätte.
Natürlich kann man über diese Aussage diskutieren, die nahelegt, dass es immer in unseren eigenen Händen liegt, ob wir glücklich sind. Hinterfragen kann man sicherlich auch den Grundgedanken, der dem Buch zugrunde liegt, dass sterbende Menschen per se ein erhöhtes Bewusstsein haben und dass bei ihnen scheinbar eine Weisheit vermutet wird, die angesichts des Todes geweckt wird. Dass man sich zuletzt an andere Dinge als an finanziellen Reichtum, eine Beförderung oder gesellschaftlichen Aufstieg erinnert, ist wahrscheinlich für die meisten auch keine neue Erkenntnis. Doch zu lesen, was andere als falsche Entscheidungen bilanzieren, kann vielleicht als Spiegel dienen: Was würde ich an ihrer Stelle sagen? So kann das Buch als Aufforderung gelesen werden, sich damit auseinanderzusetzen, was einem wirklich wichtig ist, und sich Gedanken darüber zu machen, aus welchen Gewohnheiten es sich auszubrechen lohnt, um die Zeit, die wir haben, für das für uns wirklich Wichtige zu nutzen.
Weniger Reue angesichts des Todes
Beststeller wie «The Top Five Regrets of the Dying» sowie die vielen Publikationen, die uns nahelegen, was wir noch tun sollten, bevor wir sterben, zeugen von der weitverbreiteten Vorstellung, dass wir Dinge bedauern, wenn wir uns mit unserem Tod befassen. Eine Studie der Universität Basel hat sich dieses Themas angenommen und untersuchte, ob Menschen angesichts des Todes eher Reue zeigen. Die Resultate brachten Überraschendes zutage: Wer sich gedanklich mit dem eigenen Tod befasst, bereut in der Folge weniger Dinge in seinem Leben. So hielten Probanden, die kurze Zeit vorher Sätze über ihren eigenen Tod aufgeschrieben hatten, weniger Bereuenswertes fest, als Probanden aus den Vergleichsgruppen. Dieses Resultat lasse sich mit der sogenannten «Terror-Management-Theorie» erklären, wie Erstautorin Selma Rudert erläutert: «Nach dieser Theorie wollen Menschen, die mit ihrem Tod konfrontiert werden, ihren Selbstwert schützen und nach Möglichkeit sogar noch steigern. Dies können Menschen beispielsweise dadurch tun, dass sie negative Dinge, die in ihrem Leben passiert sind, relativieren oder sogar ins Positive uminterpretieren.» Man wolle das eigene Ende so positiv wie möglich erscheinen lassen und daran festhalten, ein sinnvolles Leben gelebt zu haben. Die Studie legt nahe, dass negative Entscheidungen angesichts des Todes unwichtiger werden. Aus der sozialpsychologischen Forschung ist bekannt, dass Menschen eher etwas bedauern, was sie nicht getan haben als was sie getan haben. Diese Befunde konnte die Basler Studie bestätigen. «Während Menschen kurzfristig oft Dinge bereuen, die sie getan haben, werden langfristig häufig eher verpasste Gelegenheiten bereut. Oftmals geht es hierbei um nicht genutzte Möglichkeiten zur Selbstverwirklichung.» Es scheint also besser zu sein, etwas zu wagen und dabei zu scheitern, als jahrelang einer verpassten Chance nachzutrauern.
Ist bereuen schädlich?
«Zu starkes Nachgrübeln über Fehler in der Vergangenheit kann Menschen auch davon abhalten, sich auf die Zukunft zu konzentrieren und in einen Teufelskreis aus depressiven Gefühlen und Gedanken und sozialem Rückzug stürzen», sagt Rudert. Doch Reue ist nicht per se etwas Schlechtes, es komme auf das richtige Mass an. «Reue bewahrt Menschen davor, bestimmte Fehler zu wiederholen, und kann dazu motivieren, begangene Fehler zu korrigieren und daraus zu lernen», erläutert Rudert. In der psychologischen Forschung wird Reue inzwischen auch positiv beurteilt, denn wer Entscheidungen hinterfragt und Handlungen bedauert, kann daraus etwas lernen. Tief empfundene Reue kann ein Entwicklungsmotor sein, der einen dazu bringt, etwas neu aufzugleisen, alte Entscheidungen zurechtzurücken, Unstimmigkeiten aus dem Weg zu schaffen; ganz nach dem Motto «Einsicht ist der erste Schritt zur Besserung». So unangenehm das Gefühl der Reue auch ist, kann es einem auch viel über sich selbst aufzeigen. So ist uns also nicht nur zu wünschen, dass wir die Kunst beherrschen, nicht zu hadern, sondern ebenso die Kunst, nicht zu hadern, dass wir hadern.
Regula Baumann