Seit 100 Jahren lässt sich der Kanton Graubünden mit seinen Kontrasten genussvoll mit den öffentlichen Verkehrsmitteln entdecken. Stilvolle Hotels sorgen für Wellness und kulinarische Genüsse am Abend.
«Kind sollte man sein», seufzt schmunzelnd eine Wanderin auf dem Weg zwischen Versam und Valendas. Im Blick hat sie zwei Knaben, die aus dem nassen, sandigen Grund eine Rutschbahn machen, Anlauf nehmen, rutschen, umfallen und sich voll vom grauen Schlamm lachend erheben und es erneut versuchen. Ob Gross oder Klein, aus dem Staunen heraus kommt man hier in der Rheinschlucht nicht. Die bizarren Gesteinsformationen türmen sich zu dreihundert Metern auf, senkrecht fallen die weiss-grauen Wände ab. Der Rhein fliesst mal gemächlicher, dann mit starker Strömung. Nicht umsonst heisst diese rund 14 Kilometer lange Schlucht auf Rätoromanisch «Ruinaulta» – «Ruina» für Geröllhalde respektive Steinbruch und «aulta» für hoch. Das Naturwunder entstand durch einen Bergsturz vor rund 10 000 Jahren.
Was für Autofahrer verborgen bleibt, entdecken wir auf dieser eineinhalbstündigen einfachen Wanderung hautnah. Ein herrlicher Blick auf diese wilde Schlucht bietet sich uns auch auf der Rückfahrt mit der Rhätischen Bahn (RhB) von Ilanz respektive Valendas Richtung Chur. Im Zugabteil lassen sich die Fenster öffnen. Wir hängen wie damals auf Schulreisen über der Fensterkante, geniessen den Wind im Gesicht. Dass wir wirklich in der Schweiz und nicht in einem Canyon in Amerika sind, beweist der Herr im anderen Abteil. Genüsslich isst er ein hartes Ei mit Aromat, dazu einen Cervelat mit Senf. Eine ganz andere Architektur erleben wir im Hotel Schweizerhof auf der Lenzerheide, wo uns das Postauto ab Chur hinfährt. Max Dudler baute hier den grössten Hamam in Europa. Im 37 Grad warmen Wasserbecken tanzen vor mir Lichter an der Wand in Bordeauxrot. Stille. Sein. Das Plaudern wird auf das feine Nachtessen verschoben. Da erfahren wir, wie die Region auch kulinarisch schmeckt. Tatar aus luftgetrocknetem Bündnerfleisch, hergestellt nach alter Väter Sitte, aus Parpan, oder eine Suppe vom Malixer Bergsafran mit Brennnesselrahm.
Das Land der 150 Täler
«Einsteigen bitte», heisst es auch am nächsten Morgen. Einer der Postautochauffeure, der kurz vor der Pensionierung steht, strahlt: «Es ist wunderschön, hier zu fahren. Keine Autobahnen.» Dafür hat es in der rund fünfzehnminütigen Fahrt in das 600 Höhenmeter tiefer liegende Tiefencastel viele lang gezogene Kurven, schmale Strassen und Baustellen. Wir staunen über die Dimensionen der Taleinschnitte, die Dörfer, die auf grünen Terrassen am Hang «kleben». Vor allem auch über die ruhige Fahrweise unseres Chauffeurs. «Es ist bequemer und einfacher, ein Postauto zu fahren als mit dem Auto, weil ich höher sitze. So habe ich nicht dauernd die Strassenpfosten im Blick», meint er. Ab Tiefencastel geht es stetig bergan. In Bivio, auf gut 1700 Meter über Meer, gibt es eine kurze Pause für Fahrer und Gäste. Bergluft. Ein paar Schritte gehen. Der Buschauffeur tauscht sich mit einem anderen Fahrer aus. Dieser musste während seiner Fahrt eine Dame zur Ruhe mahnen, weil sie permanent gesprochen habe – und das im Prättigauer Dialekt. Worauf der andere Fahrer schmunzelnd entgegnet: «Dieser Dialekt ist doch gar nicht so schlimm.» Bei der Weiterfahrt Richtung Julier, auf 2284 Meter über Meer, verkündet der Fahrer via Mikrofon: «Geniessen Sie die Fahrt.» Wir können gar nicht anders. Schneefelder, braune Wiesen, Steine, hohe Berge, lang gezogene Nadelkurven. Karge Landschaft.
«Eine neue Perspektive vom Postauto aus. Ich kann die Landschaft viel mehr geniessen und aufnehmen, als wenn ich selbst mit dem Auto fahre», kommt auch mein Begleiter auf den Geschmack der Postautofahrt. Auf der Engadiner Seite grüne Matten und erste Blumen. Die Landschaft lieblicher. Und weit unten glänzt der Silvaplanersee. Während unser Chauffeur nach seiner knapp dreistündigen Fahrt von Chur über die Lenzerheide nach St. Moritz bis am Abend Pause hat, gehen wir zu Fuss weiter Richtung Stazersee nach Pontresina. Tiefes Einatmen des sonnengewärmten Harzes der Bäume, der reinen Luft. Ums Reisegepäck müssen wir uns nicht kümmern. Es erwartet uns bereits im nächsten Hotel.

Ich bin eine Bildunterschrift
© Monika Neidhart
Von der Arktis durchs Blütenmeer
Mit dem «Graubünden-Pass» in der Tasche stehen uns das ganze Schienennetz der RhB und alle Postautolinien offen. Da darf die Berninastrecke natürlich nicht fehlen. Man muss kein Eisenbahnfreak sein, um bei dieser gut zweistündigen Fahrt begeistert zu sein. Die Bahnpioniere hatten wohl schon Anfang 1900 bei der Wahl der Streckenführung an die Touristen gedacht. Ein erster Blick Richtung Morteratschgletscher mit der Berninagruppe bei Surovas, Alpenblumen und tosender Wasserfall zum Greifen nah. Dann die berühmte Montebellokurve mit freiem Blick auf den 4049 Meter hohen Piz Bernina mit dem Biancograt. Da unterbrechen sogar Motorrad- und Autofahrer ihre Reise. Stehen still da. Unzählige Handys halten diesen Blick fest. Der Lago Bianco auf gut 2200 Meter ist Anfang Juni noch teilweise gefroren. Im opalgrünen Licht erscheint die Fläche mit Eisschollen, Wasser und Schneefeldern wie von einer anderen Ecke der Welt. «Jetzt müsste nur noch ein Eisberg kommen», kommentiert eine Touristin die einmalige Szenerie. Bei der Alp Grüm glitzert der Palügletscher im Sonnenlicht. Danach gehts im Verwirrspiel in Schleifen über 1000 Höhenmeter zügig hinunter nach Poschiavo. Die Brücke, die der Zug in wenigen Minuten passieren wird, liegt sichtbar nur wenig tiefer. Bei Brusio ein weiterer Höhepunkt, der die Passagiere an den Zugfenstern kleben lässt: der Kreisviadukt. Bis nach Tirano auf 400 Meter über Meer wird es immer mediterraner. Der grosse Höhenunterschied der Strecke fasziniert, macht gleichzeitig aber auch müde. Das spüren nicht nur die Touristen. «Wir fahren die Strecke ein-, höchstens zweimal pro Tag, und das wenige Male pro Monat», erklärt der Lokführer und fügt gleich an: «Ich freue mich jedes Mal, wenn ich sie fahren darf. Es ist zu jeder Jahreszeit wunderschön.»
Das Postauto erschliesst Dörfer und Sehenswürdigkeiten
Den ereignisreichen Tag lassen wir im «Engadin Bad Scuol» ausklingen. Auf der Chromstahlliege im Aussenbecken geniessen wir das Sprudelbad, im Blick der Piz Lischana. Beim Nachtessen planen wir den nächsten Tag, die Postautofahrt im Dreiländereck über Nauders nach Glurns, durchs Münstertal nach Zernez. Einziges Problem: Bei welchen Sehenswürdigkeiten wollen wir einen Zwischenhalt machen? Das gut ausgebaute Verkehrsnetz macht es möglich. Heute ist es kaum vorstellbar, dass das Postauto bei der Einführung vor genau 100 Jahren im Kanton Graubünden auf Widerstand stiess. Das erste Postauto zwischen Reichenau und Flims Waldhaus musste seinen Dienst mit grösster Rücksicht auf Mensch und Vieh aufnehmen. Zäh und verbissen wehrte man sich gegen das Auto und für die Pferdepost.
Monika Neidhart

© Monika Neidhart
INFOS
Organisation, Reservation und Gepäcktransport
Private Selection Hotels, Tribschenstrasse 7, 6005 Luzern, www.privateselection.ch
Hotels
- Hotel Schweizerhof, Lenzerheide, www.schweizerhof-lenzerheide.ch
- Hotel Saratz, Pontresina, www.saratz.ch
- Hotel Belvedere, Scuol, www.belvedere-scuol.ch
Graubünden-Pass
Das Generalabo für Graubünden. Innerhalb einer Woche an zwei Tagen oder innerhalb von zwei Wochen an fünf Tagen erhältlich.