Vor 37 Jahren – ich war damals 20 – fuhr ich erstmals nach Irland in die Ferien, zusammen mit zwei Schulfreundinnen.
Die Insel, die Schönheit der Natur und die Menschen hatten es mir angetan: Von da an reiste ich jedes Jahr stets im Frühsommer zwei bis drei Wochen auf diese Insel. Ich wechselte die Ortschaften und Regionen. Überall aber traf ich auf Menschen, die ich gerne mochte und immer wieder besuchte. Unter anderem Irma, eine damals 78-jährige Frau, die in Adare in einem wunderschönen malerischen Dorf lebte. Ihr Blumengarten und ihre Gastfreundschaft genoss ich sehr, und sie die Schweizer Toblerone.
Mann meiner Träume
Eines Tages lernte ich in der Bar «Bill Chawke», im Herzen des Dorfes, Mike kennen und verliebte mich in ihn. Er war Barkeeper. Von nun an war ich hin- und hergerissen zwischen dem Gedanken des Auswanderns und in der Schweiz bleiben. Meine Stelle bei der Bank, ich war im Investment-Sektor tätig, gefiel mir sehr. Ich war in einem sehr guten Team eingebettet, hatte eine spannende, anspruchsvolle Aufgabe, die mir sehr lag. Auf der anderen Seite war Irland mein kleines Paradies und Mike der Mann meiner Träume.
Live for today
Zwei Jahre lang lebten wir eine Fernbeziehung. Mike schien dies zu gefallen, ich hatte mehr Probleme damit. Denn ich war es, die diese Beziehung aufrecht hielt. Die regelmässigen Flüge gingen ins Geld. Zwar konnte ich bei Mike leben, trotzdem spürte ich dieses Doppelleben nicht nur im Geldbeutel, sondern vor allem auch mental: Ich war zunehmend erschöpft. Was ich bei den Iren liebte, ihre Mentalität und ihre Sorglosigkeit der Zukunft gegenüber, ärgerte mich bei Mike zunehmend: Live for today. Was morgen war, interessierte ihn nicht.
Neues Leben…
Ich war es, die schliesslich eine Entscheidung herbeiführte. Ich kündigte meine Arbeit, meine Wohnung und zog zu Mike. Er freute sich sehr. Meine Familie hier in der Schweiz aber ging durch die Hölle. Wir lebten in den 80er Jahren, und die politischen Konflikte rund um Nordirland bewegten auch die Schweizer Medien. Mutter weinte, als ich abflog. Für sie war klar: Sie würde ihre Tochter wohl nie mehr lebend sehen.
…neue Sorgen
Wie so oft im Leben kam plötzlich alles zusammen. Mike verlor just in dieser Zeit seine Arbeit im Pub. Anfänglich war dies kein Problem, denn unser Apartment befand sich in Limerick, der Stadt in der Nähe von Adare. Er hatte also durchaus die Möglichkeit, hier vor Ort eine neue Stelle zu finden. Doch die Zeiten waren hart, die Arbeitslosigkeit hoch. Mike studierte während dieser Zeit Wirtschaft an der Uni. Wir lebten während Wochen hauptsächlich von meinem Ersparten.
Auch ich wollte arbeiten, egal wo, egal was. Ich hatte mich darauf eingestellt, alles zu tun, was mir geboten würde. Aber es wurde mir nichts geboten. Limerick hatte eine so hohe Arbeitslosenquote, dass ich weder im Service noch im Reinigungsdienst, geschweige denn auf einer Bank oder zum Beispiel in der Finanzbuchhaltung eines Unternehmens eine Anstellung bekam. Mein Geld schwand und damit mein Mut.
Nur Mut
Mike nahm dies alles sehr viel lockerer. Wir werden es schaffen, fand er. Ich mit Blick auf meinen Kontostand war mir da nicht mehr so sicher. Nach neun Monaten begann ich meine Fühler wieder Richtung Schweiz auszustrecken. Mittlerweile hatte ich zwar bei seinen Eltern auf dem Hof eine Anstellung gefunden. Es war ein kleiner Familienbetrieb im Südosten Irlands mit Milchkühen und Schafen. Dies brachte uns genügend Naturalien zum Leben ein, doch viel mehr lag auch für die Eltern nicht drin. Immerhin finanzierten sie einen Teil von Mikes Studium.
Das Geld wurde für mich zum Dauerthema und Mike konnte es nicht verstehen. War es, weil ich bei einer Bank gearbeitet hatte oder war ich als Schweizerin sehr viel mehr auf finanzielle Sicherheit bedacht? Ich spürte, dass dieses Thema uns entzweien könnte.

Licht am Horizont
Schliesslich wurde in Limerick der Technology Park eröffnet. Bereits Monate, bevor es so weit war, wurde Mike in eine Projektgruppe geholt. Nun endlich hatte er ein kleines Einkommen, womit er sein Studium und sogar unseren Lebensunterhalt finanzieren konnte.
Mit der Zeit leisteten wir uns eine kleine Wohnung. Bislang hatten wir in einem besseren Zimmer mit Kochnische und Toilette im Flur gelebt. Dieses äusserst bescheidene Leben war nun vorbei. Immer noch hatte ich keine neue Stelle gefunden und entschloss mich daher, zur Freude seiner Eltern, weiter auf dem Hof zu arbeiten. Ich war vier Tage auf dem Hof, um dann für fünf oder sechs Tage wieder daheim bei Mike zu sein. Der Fahrweg von über dreieinhalb Stunden war einfach zu lang, um kürzere Intervalle zu arbeiten.
Mike hatte keine Geschwister, früher oder später würde sich also die Frage stellen, wie es auf dem kleinen Hof weitergehen würde. Doch noch war dies kein Thema. Ein Jahr später – Mike hatte sein Studium beendet und arbeitete nun in einer grossen Steuerkanzlei – wurde ich schwanger. Nun konnte ich mich in Ruhe meiner Familie widmen. Kate und Lou wurden in kurzer Folge geboren.
Wir ziehen aufs Land
Ich widmete mich mit grosser Leidenschaft den Kindern, dem Familienleben und vor allem auch Mike. Irland war mir längst zur zweiten Heimat geworden und ich genoss mein Leben in vollen Zügen. Ich hatte viele liebe Kontakte, gute Freunde und liebte die Herzlichkeit und Offenheit der Iren.
Noch waren die Unruhen um Nordirland ein Dauerthema in den Medien und auch auf der Strasse. Limerick war eine schöne, aber auch arme Stadt. Die Armut ging durch alle gesellschaftlichen Schichten, man sah und spürte das Elend an allen Ecken und Enden. Auch die Angst vor Anschlägen war allgegenwärtig. Es war schliesslich Mike, der den Vorschlag machte, dass wir mit unseren Kindern aufs Land ziehen sollten. Und für ihn war selbstverständlich, dass wir zu den Eltern ziehen würden. Ich war einverstanden. Dadurch, dass ich monatelang bei ihnen gearbeitet hatte, betrat ich kein Neuland.
Guter Start
Mike fand durch Kontakte eine gute Stelle in einer grossen Anwaltskanzlei. Er war der juristische Steuerberater. Diese Arbeit aber bedingte, dass er von nun an öfters unterwegs war. Manchmal für eine Nacht, manchmal bis zu einer Woche. Oft war er in England.
Ich lebte auf dem Hof der Eltern. Das zweistöckige Steinhaus war zu klein und vor allem zu eng für uns alle. Anfänglich wohnten wir im Dorf, aber nur so lange, bis unser Haus fertig war. Mike und ich liessen uns auf dem Anwesen seiner Eltern ein Cottage bauen, ein klassisches Steinhaus mit massiven, wunderschönen Holzböden. Bald zogen wir ein. Die Kinder kamen zur Schule und ich war auf dem Hof, mit den Eltern, der Familie und der Arbeit in Stall und Hof beschäftigt. In all den Jahren kam ich höchstens einmal im Jahr nach Hause in die Schweiz, zumeist an Weihnachten oder Ostern.
Eine Generation verabschiedet sich
Die Kinder waren noch klein, als meine Mutter nach einem schweren Sturz von einer Treppe mit nur gerade 63 Jahren starb. Die Beerdigung war schwer für mich. Mein jüngster Bruder, damals 19 Jahre alt, lebte noch daheim. Er war völlig fertig. Auch mein Vater war plötzlich um Jahre gealtert. Es ging beiden schlecht und ich fühlte mich schlecht, weil ich so wenig für sie tun konnte.
Nur drei Jahre später starb Mikes Mutter nach einem schweren Krebsleiden, zwei Jahre später trugen wir seinen Vater nach einem Herzinfarkt auf den Friedhof. Dieses rasche Abschiednehmen unserer Eltern belastete uns sehr. Nichts war mehr, wie es war. Nach dem Tod des Schwiegervaters verkauften wir seine Kühe und einen Teil der Schafe. Es wäre für mich allein zu viel geworden.
Einsam und allein
Dennoch drückte die Arbeit. Mehr noch aber spürte ich die Einsamkeit. Die Kinder waren den ganzen Tag in der Schule, Mike war viel weg, ich war alleine auf dem Hof, sah nach den Tieren und stand auf dem Feld.
Mike und ich sahen uns oft tagelang nicht. Er lebte sein eigenes Leben und erholte sich bei uns auf dem Hof. Klar ging es uns, war er da, zur Hand, vor allem, wenn es darum ging, auf dem Hof Reparaturen vorzunehmen. Doch meist verzog er sich ins Arbeitszimmer oder zu seinen Freunden ins Pub. Eigentlich lebte ich mit den Kindern alleine auf dem Hof. Das wurde mir nach dem raschen Tod seiner Eltern erst wirklich bewusst.
Beide Kinder sprachen nebst Irisch und Englisch auch Schweizerdeutsch. Mir war es ein grosses Anliegen, dass die Kinder auch meine Kultur mitbekamen. Mehr und mehr reifte in mir der Gedanke, in die Schweiz zurückzukehren. Mike war von Anfang an strikte dagegen. Er befürchtete, dass ich für ganz bleiben würde. Ich liess den Gedanken wieder fallen.
Mikes Doppelleben
Als die Kinder 11 und 12 Jahre alt waren, stand mein Entschluss fest. Schon lange hatte ich befürchtet, dass Mike nicht nur aus beruflichen Gründen oft abwesend war. Ich spürte es und irgendwann sprach ich ihn darauf an. Seine Reaktion, die Heftigkeit, mit der er sich schwer beleidigt zeigte, sprachen Bände. Ich wusste sofort, dass er mich anlog.
Ich blieb wachsam und spürte im Alltag plötzlich einige Unregelmässigkeiten, die mich stutzig machten. Warum war ich nicht schon früher darauf gekommen?
Ich entschied zu handeln. Allein mit den Kindern auf diesem Hof hielt ich die Situation nicht mehr aus. Zunehmend holten mich Depressionen ein, sie waren so stark, dass ich tagesweise kaum mehr in der Lage war, die Tiere zu versorgen. Waren die Kinder aus dem Haus, bekam ich Heulkrämpfe. Ich fühlte mich so allein.
Irgendwann aber packte mich die Wut. Er spielte auch mit unserem Leben. Er liess mich hier auf dem Hof seiner Eltern mit den Kindern allein, machte Karriere, hatte irgendwo eine andere Frau und war dauernd weg.
Nun beschloss ich zu handeln. Ich verkaufte die Schafe, verschenkte unsere 7 Hühner einer Bekannten und liess für unseren Hund einen Ausweis machen. Dann meldete ich die Kinder von der Schule ab und traf Vorbereitungen, um zurück in die Schweiz zu reisen.
Ich wollte einfach nur gehen und einen klaren Kopf bekommen.

Ab in die Schweiz
Mike war wieder einmal für Tage in London, kam genau zwei Tage dazwischen nach Hause, um die Wäsche zu wechseln. Es fiel ihm gar nicht auf, dass sich von Mal zu Mal einiges geändert hatte. Zu sehr war er mit sich und seinen Projekten beschäftigt. Das zeigte mir auch, wie sehr er sich bereits von uns entfernt hatte.
Es fiel ihm in den letzten Tagen auf dem Hof auch nicht auf, dass die Kinder nicht da waren. Ich hatte sie vorsorglich bei Freunden untergebracht, damit sie nicht plaudern konnten.
Die Kinder fanden es spannend in die Schweiz zu reisen. Sie ahnten den wirklichen Grund nicht und gingen davon aus, dass Dad nachkommen würde.
Streit und böse Worte
Im Haus meiner Eltern fanden wir eine vorübergehende Bleibe. Die nächsten Monate waren schwer. Mike war überhaupt nicht einverstanden mit meinem Aufenthalt in der Schweiz. Er sprach von Kindesentführung und drohte mit dem Anwalt. Er war wütend, dass ich das Haus seiner Eltern seinem Schicksal überlassen hatte. Schlimm für mich war, dass auch ein Teil meiner Geschwister und mein Vater mein Vorgehen nicht gut fanden. Ich aber wollte Klarheit haben: Klarheit über Mike. Wie würde er sich entscheiden – für die Familie oder für sein bisheriges Leben? Er aber wich dieser Frage geschickt aus, indem er mich unter Druck setzte, Vorwürfe platzierte und mich mit Forderungen bedrängte. Am schlimmsten aber war, dass er alles abstritt, auch Dinge, die ich ihm nachweisen konnte. Er log, um das Gesicht zu wahren und war nicht bereit, nur einen Schritt auf mich zuzumachen.
Kein Zurück mehr?
Ich machte mir bittere Vorwürfe. Hatte ich wirklich so falsch gehandelt? Hätte ich mich noch einmal an den Tisch setzen und mit ihm reden müssen? Aber hatte ich das nicht versucht? War es zu wenig? Hatte ich den Kindern ihre Heimat und ihr Zuhause weggenommen? Ich hatte mir eigentlich vorgenommen, ein halbes, vielleicht ein ganzes Jahr in der Schweiz zu bleiben, die Kinder während dieser Zeit einzuschulen und dann in Irland einen Neuanfang zusammen mit Mike zu machen. Doch die Scherben liessen sich nicht mehr kitten. Mike war nun endgültig aus unserem Daheim ausgezogen, hatte seine Sachen gepackt und war nach Dublin gezogen.
In der Schweiz daheim?
Die Kinder fühlten sich wohl in dem kleinen Dorf. Hatten auch schulisch wenig Mühe. Meine Schwester half mir sehr dabei. Sie suchte mir eine hübsche kleine Wohnung und half mir bei den vielen Formalitäten. Ich war ihr sehr dankbar. Alles schien, zumindest für die Kinder, aufzugehen. Die vielen bösen Briefe, die Telefonate mit Mike, die Drohungen, alles wollte ich vor ihnen fernhalten. Ich ahnte nicht, dass die Kinder längst Bescheid wussten, die Briefe gelesen hatten und nun versuchten, aus eigener Kraft mit dem Ganzen fertig zu werden. Immer noch gab ich vor, dass wir irgendwann wieder nach Irland zurückgehen würden, zu Papa und in unser Haus. Doch je mehr Zeit verging, umso klarer wurde mir, dass es vorbei war.
Neuorientierung
Aus einem halben Jahr wurde ein ganzes, dann folgte ein zweites. Die Trennung zu Mike war eingeleitet, eine Scheidung war zu diesem Zeitpunkt nach irischer Verfassung unmöglich. Das hiess für mich auch, dass ich nie wieder heiraten dürfte.
Beruflich konnte ich nicht mehr anknüpfen. Ich bekam eine Stelle in der Buchhaltung in einem grossen Zimmermannsbetrieb, doch nur stundenweise. Um überleben zu können, ging ich in zwei Restaurantbetrieben putzen. Die Arbeitszeiten waren unregelmässig, die Arbeit streng. Es gab Abende, an denen ich erst nach 23 Uhr nach Hause kam.
Langsames Entgleiten
Die Kinder waren oft sich selber überlassen. Das war nicht gut. Kate war zu oft mit ihren Freundinnen unterwegs. Je älter sie wurde, umso frecher wurde sie. Sie begann ihr Fernbleiben selber zu bestimmen, meldete sich nicht mehr bei mir ab. Manchmal wusste ich zwei Tage nicht, wo sie war. Sagte ich etwas, nahm sie die Trennung von Papa als Grund, um mich zu beschimpfen. Ich hätte ihr Leben kaputt gemacht. Sie erzwang sich ihre frühe Freiheit mit meinem wunden Punkt.
Ich fand es gemein, wehrte mich aber nicht. Wie hätte ich auch sollen? Ich hatte ihr gegenüber ein schlechtes Gewissen und somit auch schlechte Karten. Kate entglitt mir, während Lou sich im Haus breitmachte und sich um wenig kümmerte. Weder räumte er seinen Unrat weg noch fütterte er die Katzen.Die Kinder waren dabei, mir zu entgleiten. Ich war verzweifelt. Ich versuchte an allen Ecken und Enden da zu sein, ihnen eine gute Mutter zu sein. Da zu sein für ihre Sorgen, ihnen ein schönes Daheim zu bieten mit Struktur, aber auch Freiheiten.
Doch Kate, mittlerweile 14, boykottierte all meine Bemühungen. Sie liess mich bewusst auflaufen. Leerte Kühlschrank und Geldbörse und war dann wieder weg. Dann wieder gab es gute Tage. Sie war da und wir hatten es gut. Ich schöpfte Hoffnung. Schulisch war sie im unteren Segment. Es war ihr egal. Diese Jahre waren schlimm. Vor allem, als uns allen klar war, dass Irland nie mehr eine Option für mich sein könnte. Ich trauerte unserer einstigen Heimat, unserem vergangenen Leben nach. Gerne hätte ich das Rad noch einmal zehn Jahre zurückgedreht.
Verloren auf der ganzen Ebene
Als Kate siebzehn war, wollte sie ausziehen und nach Irland zum Vater gehen. «Du hast auf allen Ebenen versagt», schleuderte sie mir ins Gesicht. Das sass. Sie wolle versuchen, einen Job zu finden und bei Papa einzuziehen.
Ich liess sie ziehen. Was hätte ich sagen sollen? Jedes Jahr waren die Kinder bei Freunden im Dorf im Urlaub, mir war wichtig, dass sie den Bezug zu ihrer Heimat nicht verloren. Kate nahm zweimal auch eine Freundin mit. Ich konnte das Geld dafür kaum aufbringen, verschuldete mich einmal bei meiner Schwester, dann bei einer Freundin.
Waren sie dort, hatten sie Kontakt zu ihrem Vater. Er überhäufte sie mit Geld und Geschenken. Ich hatte Mühe, damit klarzukommen, denn Geld für den Unterhalt bezahlte er mir anfänglich gar nicht, später so wenig, dass ich damit nur während drei Jahren meine Anwaltsschulden bezahlen konnte. Ich hatte auf der ganzen Ebene verloren.
Vorwürfe
Acht Monate blieb Kate bei Papa, dann kam sie zurück. Traurig, enttäuscht und um eine Illusion ärmer. Ihr Vater hatte keine Zeit für seine Tochter. Anfänglich war es gut gegangen, sie hatten Ausflüge gemacht, freuten sich und waren bemüht mir zu zeigen, dass sie es besser machten. Doch bald schlug der Wind um. Er mochte es nicht, dass sie sich in seiner Wohnung breit machte. Er mochte es nicht, dass sie sich in sein Leben einmischte, dass sie Fragen stellte und Forderungen hatte. Sie sei verwöhnt und verzogen, fand er. Es gab Streit und irgendwann holte ich sie am Flughafen in Zürich ab.
Im Stillen hatte ich gehofft, dass wir es nun besser haben würden. Ich hatte mich getäuscht. Kate machte mir Vorwürfe für das, was sie dort angetroffen hatte. Einen Vater, der sich mit Frauen traf, dem die Arbeit mehr bedeutete als sie.
Heute
Heute bin ich 57 Jahre alt. Kate lebt in Frankreich mit ihrem zweiten Mann. Sie hat eine Tochter. Ich sehe sie, wenn es hochkommt, zweimal im Jahr. Dann, wenn sie Marielle im Sommer in die Ferien bringt und sie nach drei Tagen wieder abreist. Unser Verhältnis hat sich stabilisiert. Aber es ist nicht gut. Sie ist mit eigenen Problemen beschäftigt, und das sind nicht wenige.
Lou verheiratete sich im Dorf, bekam Kinder und wurde nach acht Jahren geschieden. Er und seine Frau hatten in diesen Jahren Streit ohne Ende. Während einiger Jahre lebte er bei mir. Dann fand er eine neue Freundin, mit der er nun seit vier Jahren zusammenlebt.
Sie ist eine feine Frau, aber er nervt sie. Er sei faul und lethargisch. Sie habe Mühe, seine Unordnung auszuhalten. Es sei schon vorgekommen, dass er das Bier aus dem Kühlschrank genommen und die Türe offen gelassen habe.
Zu seinem siebenjährigen Sohn aber hat Lou eine liebevolle Beziehung. Beide lieben Fussball, und dieser Sport verbindet sie.
Ich habe seit vier Jahren wieder einen lieben Freund. Ich versuche meine Wunden vernarben zu lassen und mich an meinen Hier und Jetzt zu freuen. Es gelingt nicht immer.
Enges Band um mein Herz
Ich hatte während einigen Jahren zunehmend Ängste. Angst, das Haus zu verlassen, Angst, mit dem Bus zu fahren und Angst, in der Nacht zu sterben. Diese Ängste haben etwas abgenommen, seit mein Freund bei mir eingezogen ist. Nun wollen wir noch einmal einen Neustart wagen. Wir suchen uns eine neue Wohnung, am liebsten ein kleines Häuschen irgendwo in der Nähe seiner jetzigen Arbeitsstelle. Doch dieser Schritt allein löst bei mir wieder schwere Ängste aus. Ich verlasse dann wieder meine Heimat, die Gegend, wo meine Familie lebt, mein Sohn, seine Ex-Frau, die Enkelkinder, aber auch meine Geschwister und mein alter Vater.
Auf der anderen Seite weiss ich, dass ich meinem Freund vertrauen kann und dass er jetzt Unmögliches leistet. Jeden Morgen steht er um halb fünf Uhr auf, damit er pünktlich um sieben an der Arbeit ist. Er hat eine gute Arbeit und er weiss, dass er mit 56 Jahren keine grossen Wünsche mehr haben darf.
Manchmal wünsche ich mir, dass die Umstände im Leben manchmal etwas einfacher sein könnten. Wenn ich noch einmal von vorne beginnen könnte… wüsste ich dennoch nicht, was ich ändern würde. Ich habe versucht, aus der Situation heraus das Beste zu machen, auch wenn es mir nicht immer gelungen ist.
Nacherzählt von
Lotty Wohlwend